Das 15. Internationale Tanzfest Berlin sammelt Argumente für und wider das Leistungsprinzip, und einer findet den dritten Weg zwischen Wettbewerbskritik und Virtuosität. No loitering heißt "Herumlungern verboten", erklärt der Tänzer Marc Rees. Er hat vor, das Schild zu ignorieren. Die ständige Aufforderung zu zielgerichtetem, ergebnisorientiertem Handeln provoziert ihn. Seltsam, dass er damit in seinem Metier der Durchtrainierten und Spitzenleister nicht allein steht. Längst nicht mehr. Warum sollte ein Tanzfestival sich also nicht um Effektivität kümmern? Alle reden doch davon. Gerade in Berlin, wo eben der fünfzehnte Tanz im August Sommerlöcher ins Portemonnaie der unermüdlichen Stammkundschaft reißt, gerade dort ist die De
e dort ist die Debatte um "Tanz oder nicht Tanz" in den letzten Jahren praktisch immer eine Haushaltsdebatte gewesen. Gibt es ein besseres Thema? Oder gibt es überhaupt andere?Natürlich gibt es sie. Faustin Linyekula erzählt von Lärm und zersplitterter Identität in Kinshasa. Anne Teresa de Keersmaeker tanzt ihre Memoiren im Duett mit Joan Baez´ Stimme. Trinksprüche bewegen die georgische Kutaisi Theatre Company. Und Michael Laub verbeugt sich lasziv vor den Märchen Hans Christian Andersens. Daneben setzen eine Reihe Produktionen ein dickes Fragezeichen hinter die allgemeinen Wettbewerbsbedingungen. Im internationalen zeitgenössischen Tanz finden sich Alliierte der Verweigerung, Gegner der vollständigen Kolonialisierung von Gesellschaft und Kultur durch das Leistungsprinzip. Mette Ingvartsen ist ein biegsames Strichmädchen, ein Flummipüppchen aus einem altmodischen Cartoon, eingesperrt in eine kahle Kiste. Und wir mit ihr, glotzend. Sind wir doch im Theater. Aber das Licht bleibt an. Mette glotzt also zurück wie die Äffchen im Zoo. Drei Fuß-, zwei Handmarkierungen schmücken als einzige die kalkige Probebühne des Berliner Podewil. Weniger an ein Festival, dafür sehr an die Leichtathletik- Weltmeisterschaft erinnern die 15 kargen Minuten gegenseitiger Musterung. Mette als Hochspringerin beim Warmwippen, gefolgt von ungeduldigen Oberschenkeldehnungen. Angezogene Schultern über abgeschrägten Armen. Sie lässt sie baumeln. Lax angetäuschte klassische Figuren löst sie federnd auf in merkwürdig entspannte Positionen. Sie kann nämlich richtig tanzen, aber sie will wohl nicht. Solo negatives, lapidar kommentiert mit aufsässiger Ausdruckslosigkeit im Blick.Zwei Stockwerke höher hebt Marten Spangberg zur inbrünstigen Vermählung von Homer Simpson und Helge Schneider in seiner Person an. Hat man je einen schlafferen Hungerhaken kreiseln sehen? Powered by Emotion. Eindeutig. Und von Technik nicht verdorben. Irgendwo in einer verdunkelten Ecke der Entstehungsgeschichte dieses getanzten Hape-Kerkeling-Witzes müssen die Paten stehen, die amerikanische Tanzavantgarde der Sechziger, und kichern. Eine Persiflage auf Ballett, Barock und Ausdruckstanz in der Tradition eines famosen "Hurz"-Gesangs. Zur Bekräftigung unseres Verdachts zersetzt Spangberg im zweiten Teil mit dünnem Stimmchen die Vorlagen des Buena Vista Social Club. Dass die Stimmung unter den Intellektuellen im Saal so gut ist, muss an der Qualität der Darbietung liegen. Damit ist sicher: Qualität ist nicht Virtuosität. Und der Tänzer muss nicht in erster Linie tänzerisches Können zeigen, sondern Ausstrahlung haben.Der Kanadier Edouard Lock würde das nicht unterschreiben. Schließlich gründet sich sein Ruf als Choreograph auf der technischen Beherrschung, ja Überwindung des menschlichen Körpers. Folgerichtig senkt sich auf Amelia immer wieder ein sechseckiger Spiegel und lässt die kalte Vollendung erscheinen: die Cyber-Ballerina. Überlebensgroß, seelenlos schwebt die Projektion zwischen ihren leiblichen Geschwistern. Die dürfen sich nicht schonen, um ihr ähnlich zu werden. Locks Truppe von Hochleistungsinstrumenten schraubt sich auf der Spitze an die Schallgrenze heran. Haarscharf präzise. LaLaLa Human Steps haben ihren Namen nicht verdient, denn nichts an ihren Bewegungen ist noch "human". Sie sind die Science-Fiction-Version von Ballett, reine Perfektions-Ekstase. Aber am Ende verlangt die gnadenlose Mechanik doch mehr, als Menschen leisten können. Die Berliner Premiere musste aus Krankheitsgründen ausfallen, zwei weitere Vorstellungen liefen in gekürzter Fassung. Bei der Virusgrippe erreicht die Abstraktion ihre Grenze.Während Lock mit seinen Tänzern umgeht wie Paganini mit der Geige, bis die Saiten springen, lehnt Lloyd Newson es ab, zu abstrahieren. Der Chef der legendären britischen Rebellen DV8 Physical Theatre findet pures Virtuosentum unmenschlich und setzt seit Mitte der Achtziger auf radikale Kritik an den Normformen. "To deviate", wie sich der Name auch lesen lässt, bedeutet "abweichen". Mit seinen kompromisslos harten Schlaglichtern auf Männlichkeit, (Homo-)Sexualität, Normalität und ihre Schattenseiten steht er nicht im Verdacht, den Publikumsgeschmack zu bedienen. Wenn auch The Cost of Living, zum Festivalauftakt, vergleichsweise altersmilde ist. Newson denunziert die Verkaufslogik der Körper, die weit über seine Branche hinaus geht, als brutalen Totalausverkauf. Das ist schon ein gängiger Topos, aber Newson hat, was keiner sonst bietet: David Toole, den brillianten Tänzer ohne Unterleib. Man kann nicht krasser zeigen, dass alles Leben seinen Preis hat. Sensationen sind besonders teuer. Alles einprägsame Bilder, die zynisch machen können.Kaum tröstet es, wenn einer angesichts des Sisyphos-Jobs unserer Existenz auf das Vergessen baut, wie Mihai Mihalcea (Stars High in Amnesia´s Sky). Mit Selbstironie erkennt man in den unproduktiven Aktionen dreier Langsamtreter, wie man selbst, ineffektiv, oft die Zeit mit Sinnlosigkeiten zerdehnt. Hier aber endet die klare Analyse dann in der Sackgasse. Hohe Sympathiewerte für alle sinnsuchenden Systemkritiker. Aber von da aus: wohin tanzen? Erkenne dich selbst und handle. Als leuchtendes Zukunftsbeispiel sei der 24-jährige Brasilianer Bruno Beltrao empfohlen. Als Teenager Streetdance-Champion, ist aus dem verspielten Philosophiestudenten mit kreativem Bewegungsüberdruck ein reflektierter Choreograph geworden. Zu bestaunen in einer dreiteiligen Werkschau. In Too legit to quit sind seine Tänzer noch die Zirkuspudel bei der Breakdance-Battle. Dabei lässt er den reglementierten Wettkampftanz in seine Einzelteile zerfallen. Dem Duo From Popping to Pop or vice versa dreht er die Musik ab. Ein Tabubruch. Wie Wiederholung und Verlangsamung. Me and my choreographer in 63 macht den Bewusstseinsstrom des Tänzers zum Soundtrack einer Persönlichkeitsstudie. Beltraos Stücke verstoßen wirklich gegen alles, was der HipHop-Kultur heilig ist. Dabei leben sie aus ihr. But hey, James Brown is dead. Dogmen über Bord! Hier gehen Muskeln und Konzepte zusammen. Mit dem wilden Mix aus Breakdance, Technik und Stilmitteln des zeitgenössischen Tanzes öffnet Beltrao zwei stagnierenden Kunstformen eine neue Tür.