Oft auf Fritz Lang und Friedrich Wilhelm Murnau reduziert, genießt das Weimarer Erzählkino weltweit unter Cineasten Anerkennung – im Gegensatz zum weithin vergessenen Korpus dokumentarischer Filme, der Vielzahl von Kultur-, Industrie-, Landschaftsfilmen, politischen Reportagen und Wochenschauen, die während der Weimarer Republik über die Leinwände liefen. Auch in der Retrospektive der 68. Berlinale, die die filmische Vielfalt dieser Epoche in einem bislang ungesehenen Maße abbilden will, muss sich der dokumentarische Film mit Programmnischen begnügen.
Eine dieser Nischen war zeitgeschichtlichen Film- und Tondokumenten gewidmet: der Domäne des Bundesarchivs, das, als langjähriger Partner der für die Retrospektive verantwortlichen Stiftu
hen Stiftung Deutsche Kinemathek, Gelegenheit erhielt, Einblicke in seine Bestände zu vermitteln. Vor allem diente die einstündige Präsentation jedoch dazu, das Onlineportal Weimar – Die erste deutsche Demokratie (blogweimar.hypotheses.org) anzukündigen, das am 22. März freigeschaltet werden und einer interessierten Öffentlichkeit eine Menge digitalisierter Akten, Plakate, Fotos sowie Film- und Tonaufnahmen zugänglich machen soll.Michael Hollmann, der Präsident des Bundesarchivs, erinnerte eingangs daran, dass die Weimarer Republik mehr als nur eine „schiefe Ebene“ gewesen sei, die in die NS-Diktatur geführt habe. Es sei indes nicht die Aufgabe des Bundesarchivs, ein „Narrativ deutscher Geschichte“ bereitzustellen, sondern das überlieferte Material zugänglich zu machen, anhand dessen sich jeder Nutzer ein solches Narrativ individuell erarbeiten könne. Hollmann sprach sich in diesem Zusammenhang gegen einen restriktiven Umgang mit Archivmaterial aus.Ohne Voice-overIm Gegenteil strebe das Bundesarchiv die größtmögliche Popularisierung seiner Bestände an. Die nahezu unbegrenzte Verfügbarmachung digitaler Abbilder eröffne hier ganz neue Möglichkeiten, derer sich das Bundesarchiv in Zukunft bedienen werde. Dirk Förstner, in dessen Händen die Digitalisierung der gezeigten Materialien lag, wies ergänzend darauf hin, dass das Bundesarchiv 2017 erstmals mehr Filme digital als analog gesichert habe. Filme, die als 35mm-Kopien erhalten sind, scanne das Bundesarchiv in 4K, Schmalfilmformate in 2K. Gespeichert würden anstelle digitaler Filmformate die Rohscans in Form von Einzelbildern. Die hierfür benötigte IT-Infrastruktur befinde sich im Ausbau. Nicht zur Sprache kamen die grundsätzlichen und bis dato ungelösten Probleme der digitalen Langzeitspeicherung.Was Hollmann und seine Mitarbeiter anschließend zeigten und erläuterten, war eine Reihe von Film- und Tondokumenten, die – trotz ihrer Kürze, ihrer fragmentarischen Gestalt und unkaschierter Alterungsspuren – die politisch-gesellschaftliche Atmosphäre der gescheiterten Republik greifbar werden ließen. Manches davon war allgemein bekannt und ist im sogenannten History-TV bereits oft gezeigt worden. Und doch war der Seheindruck ein ganz anderer als im Fernsehen, das zeitgeschichtliche Filmbilder meist nur zu illustrativen Zwecken einsetzt, sie mit Musik- oder Geräuschkonserven verkleistert oder mittels eines übermächtigen Sprecherkommentars erdrückt.Es lag daher nicht nur an der ungewohnt hohen Auflösung der Bilder, dass sie besser – und anders – zur Geltung kamen. Ihnen wurde, was viel zu selten der Fall ist, der nötige Raum gegeben, um als Dokumente einer „versiegelten Zeit“ (Andrej Tarkowskji) zu wirken, das heißt auch: Assoziationen zu wecken und Gedanken anzustoßen, die nicht durch nachträgliche Eingriffe, durch Musik oder Voice-over, gelenkt werden.So sah man etwa einen blasiert wirkenden Reichskanzler Heinrich Brüning in einem Wahlkampfwerbefilm über Wirtschaftspolitik dozieren, und mancher heutige Zuschauer mochte dabei vielleicht erahnen können, warum viele, die in der Wirtschaftskrise Anfang der dreißiger Jahre Lohn und Brot verloren hatten, nicht dem als „Hungerkanzler“ verschrienen Brüning ihre Stimme gaben, sondern dessen brachial-dynamischem Konkurrenten von der NSDAP.„Bei aller gebotenen Quellenkritik“, so Michael Hollmann am Rande der Veranstaltung, könne ein Bild tatsächlich mehr sagen als tausend Worte. Die Möglichkeiten, die die filmische Überlieferung bietet, werden aber „von der Geschichtswissenschaft noch nicht annähernd ausreichend genutzt“. Es bleibt abzuwarten, ob die vom Bundesarchiv in Angriff genommene Online-Verbreitung audiovisueller Quellen zu einem Bewusstseinswandel beiträgt.Zum jetzigen Zeitpunkt spricht noch alles dafür, dass das zeitgeschichtlich-dokumentarische Filmerbe auch bei zukünftigen Retrospektiven bestenfalls mit einer Nebenrolle abgespeist werden wird. Dabei könnte man doch gerade darin ein lohnenswertes kuratorisches Wagnis sehen: historische Filmdokumente vor großem Publikum auf der großen Leinwand – und damit die Einladung an alle Besucher der Berlinale, der Zeitgeschichte ins Auge zu blicken.