Nicolas Sarkozy hatte allen Kabinettsmitgliedern striktes Schweigen verordnet – sie sollten zur Affäre Strauss-Kahn möglichst keine Statements abgeben. Offenbar geschah das, um den Eindruck zu vermeiden, die Regierung, vor allem der Staatschef selbst, wollte vom mutmaßlichen Fehltritt des IWF-Direktors profitieren. Die Minister hielten sich bisher an das Redeverbot – etliche Abgeordnete der regierenden Union pour un Mouvement Populaire (UMP) hingegen nicht. Bernard Debré spricht vom „Sexualtäter Dominique Strauss-Kahn“, andere Abgeordnete haben sich auf die Führung der Sozialisten eingeschossen: Wer die Unschuldsvermutung im Fall Strauss-Kahn dermaßen stark betone, verteidige „in unerträglicher Weise das Nicht-zu-Verteid
eidigende“, so Brigitte Barèges. Noch deutlicher wird der Abgeordnete Lionel Luca: „Man sieht, dass die Sozialisten einen reichen weißen Mann unterstützen gegen eine arme schwarze Frau.“In den Zeitungen und Talkshows kursieren Hirngespinste, Gerüchte und jede Menge Verschwörungstheorien. Den Vogel schießt einmal mehr Bernard-Henri Lévy ab – der windschnittigste unter den geschwätzigen Pariser Medienphilosophen, der behauptet, er kenne Strauss-Kahn sehr gut. Der sei zu einer solchen Tat, wie man sie ihm vorwerfe, „nicht fähig“. Außerdem besuche das Personal im New Yorker Hotel Sofitel Gästezimmer nur als Putztrupp – niemals allein.Eine Umfrage vom Wochenende lässt darauf schließen, dass 57 Prozent aller Franzosen und 70 Prozent der mit den Sozialisten Sympathisierenden tatsächlich an ein Komplott glauben, das die Umgebung von Nicolas Sarkozy gegen einen aussichtsreichen Gegner bei der Präsidentenwahl 2012 eingefädelt habe. Wie hoch die Wellen schlagen, zeigt ein Leitartikel von Le Monde. Der Artikel gleicht mehr einem Ordnungsruf an alle Franzosen als einem Kommentar. Das Blatt geht die Leser frontal an und fragt, ob es „denn genug sei“, was man aus New York höre und sehe, „um jede Vorsicht, jedes Maß und obendrein jede Vernunft zu verlieren? Das Umfrageergebnis ist entlarvend für den Geisteszustand des Vaterlandes von Descartes“, der vor fast 400 Jahren den vernunftbasierten Zweifel zum obersten Gebot der Philosophie erklärt habe.Die Umfragen stagnierenWenn man einmal vom direkten Anhang des Dominique Strauss-Kahn absieht, so erwischte der „Donnerschlag“, wie ihn die PS-Vorsitzende Martine Aubry nannte, besonders die Sozialisten kalt. Bis Juli sollten sich die Anwärterinnen und Anwärter auf eine Präsidentschaftskandidatur erklären. Im Oktober hätte dann eine Urabstimmung unter Parteimitgliedern und Anhängern den Gegenkandidaten von Nicolas Sarkozy für die Wahl im April/Mai 2012 bestimmt. Zum wahlberechtigten Anhänger kann man mit einem Beitrag von wenigstens einem Euro und der Unterschrift unter die Plattform linker Werte werden. Das Verfahren ist einfach und umstritten, weil gegen Missbrauch nicht geschützt. Bisher hat der Ausfall von Strauss-Kahn diesem Fahrplan der Nominierung nichts anhaben können, aber die verbliebenen Bewerber – Martine Aubry, François Hollande, Ségolène Royal, Laurent Fabius und Arnaud Montebourg – müssen ihre Programme umschreiben, weil das des Ex-IWF-Direktors, an dem sich alle rieben, jetzt fehlt.Andererseits sollten die Nachbeben des Skandals für die Sozialisten nicht überschätzt werden. Nach Umfragen hat sich die Ausgangsposition für Sarkozy nur minimal verbessert. Seine Werte stiegen um zwei Punkte – ganze 21 Prozent der Franzosen wollen ihn noch einmal wählen. Dagegen würden 29 Prozent für Hollande, 27 für Martine Aubry, 17 für Marine Le Pen vom rechtsradikalen Front National und 16 für Ségolène Royal stimmen. Auch diese Werte haben sich durch Haft, Anklage und Hausarrest des Dominique Strauss-Kahn nur geringfügig verschoben.Befragt man nur Sozialisten und deren Sympathisanten – so läuft die Urabstimmung im Oktober auf ein Kopf-an-Kopf-Rennen zwischen Aubry (74 Prozent) und Hollande (73 Prozent) hinaus. Die anderen sozialistischen Kandidaten liegen bei 40 Prozent oder darunter. Martine Aubry hat den Vorteil, dass sie der Partei als Integrationsfigur gilt, die zerstrittene männliche Fraktions- beziehungsweise Familienhäuptlinge disziplinieren kann. Programmatisch steht sie in der Parteimitte und lässt sich den Sozialstaat nicht ausreden. Sie wird versuchen, Hollande aus dieser Mitte nach rechts zu drücken, um für ihr Mandat das Zentrum, die Linke und die dadurch garantierte Einheit der Partei zu beanspruchen.Noch herrscht BurgfriedenSégolène Royal hat sich inzwischen etwas nach links abgesetzt, aber viele Beobachter halten dies für einen populistisch taktischen Schwenk. Arnaud Montebourg und Laurent Fabius von der Parteilinken sind ebenso chancenlos wie der Ex-Sozialist Jean-Luc Mélenchon mit seiner Splitterpartei Front de Gauche, die laut Umfragen mit vier bis sechs Prozent rechnen könnte.Noch herrscht eine Art Burgfrieden zwischen den sozialistischen Kandidaten, aber Mélenchon ist sicher, dass nach dem Schock und einer gewissen Anstandsfrist innerhalb der Führung des Parti Socialiste „ein wüstes Hauen und Stechen“ um die bewusste Kandidatur einsetzen wird. Auch für diesen Fall traut man Martine Aubry am ehesten zu, die „Elefanten“ zur Vernunft wie auch zum Respekt vor der Partei und deren Geschlossenheit zu bringen. Ihrem Gegner François Hollande, der ihr unterstellt, die Lage zu dramatisieren, um sich als Retterin zu empfehlen, widerspricht sie mit dem Satz: „Ich arbeite mit der Anerkennung von allen für alle“. Sie gedenke, „Kurs zu halten“, was man durchaus als Ankündigung ihrer eigenen Kandidatur interpretieren kann, die sie bisher für den Fall zurückgestellt hat, Dominique Strauss-Kahn wolle Präsident werden. Ein solches Begehren ist mit Sicherheit hinfällig geworden, darf man annehmen – wie auch immer der anstehende Prozess in New York ausgehen wird.