Dort die Sehnsucht

Syrien Olga Grjasnowa porträtiert in „Gott ist nicht schüchtern“ eine verlorene Generation
Ausgabe 11/2017

Hammoudi will seinen Pass verlängern und dann schnell nach Paris zurück, sieben Jahre war der junge Schönheitschirurg nicht in seiner Heimat. Es ist 2011, Syrien hat sich verändert: Auf ehemals belebten Straßen fahren Panzer, in den Cafés sitzen verdeckte Sicherheitsbeamte. Als die syrische Revolution ausbricht, feiert Amal ihre ersten Erfolge als Schauspielerin und träumt von kommendem Ruhm. Sie ist, anders als Hammoudi, eine politische Idealistin und Aktivistin, sie will etwas verändern. Hammoudi hingegen will nur wieder weg von seiner Großfamilie, er sehnt sich nach Paris, vor allem aber nach seiner Freundin Claire.

Während Hammoudi versucht, die Bürokratie zu bezwingen, und nachts über seine große Liebe und das normale Leben in Paris sinniert, lernt Amal knapp 500 Kilometer entfernt statt Assad-Zitaten nun politische Codewörter der Oppositionellen auswendig. Banalste Gesten in ihrem Umfeld, wie ostentatives Zuziehen der Vorhänge ihrer Nachbarn angesichts einer Demonstration, entfachen weiter ihren Tatendrang: „In diesem Augenblick beschließt Amal, dass sie sich nie wieder hinter einem Vorhang verstecken möchte, nicht heute, nicht morgen und auch nicht in vier Jahrzehnten, und dass der einzige Weg, dies zu erreichen, darin besteht, weiter auf diesem Platz zu stehen, komme, was wolle.“

Olga Grjasnowas Roman Gott ist nicht schüchtern reflektiert auch die sozialen Medien. Während der Aufstände fungieren Plattformen wie Facebook, die „neueste Droge der syrischen Jugend“, und Youtube als Diashow der Leichen und Verletzten, aber auch als Bindeglied zwischen syrischen Aktivisten und Gleichgesinnten in Ägypten, Tunesien oder Bahrain.

Olga Grjasnowa weicht der Gefahr mit ihrem leichten Stil dem Erzählten nicht gerecht zu werden, geschickt aus. Sie versteht es, mit einfacher Sprache viel zu sagen. Sie trifft den Ton, setzt simple Worte zur richtigen Zeit, schafft so Tiefe. Denn genau das braucht diese Thematik. Wenn uns von zwei jungen Menschen aus Syrien erzählt wird, will man vom Pathos einer Revolte nichts hören, besser ist hier das politische Abenteuer, dort die Sehnsucht nach der schönen Pariserin Claire. Es ist die Normalität des Lebens, das mal war, die aufbegehrende, die liebende und flirtende Jugend und die Naivität, die den Leser berührt und das Leid des Landes ansatzweise verständlich macht. Die Chronik der Revolution entlang wilder Jugendjahre, genau das verleiht dem Roman seine Authentizität.

Amal und Hammoudi bringen ihre getrennten Welten so nah, dass trotz Weltenferne Empathie und Identifikation stattfinden können. Grjasnowas Stil verleitet dazu, sich hineinzuversetzen, in jedem Kapitel abwechselnd in die Gefühls- und Gedankenwelt einer ihrer beiden Hauptfiguren Hammoudi oder Amal zu tauchen.

Die 1984 in Baku geborene Aserbaidschanerin, die schon mit ihrem vielbeachteten Debütroman Der Russe ist einer, der Birken liebt (2012) den Nerv ihrer Generation getroffen hat, schreibt über den Frust einer gebrochenen Jugend. Wut ist dabei eine Emotion, die so stark ist, weil sie Fragen aufwirft, den Lesenden teils empört, teils missmutig die Buchklappe zuschlagen lässt, um sie danach hoffnungsvoll aufzuschlagen.

Später begegnen sich Amal und Hammoudi über einen gemeinsamen Bekannten noch einmal in Berlin – nach der dramatischen Flucht. Auf die Frage von Amal hin, wie es ihm seit dem letzten Treffen in Syrien ergangen sei, fällt seine Antwort lakonisch aus: „Ich habe neunhundertsiebzehn Tote gesehen.“

Eindringlich, erschütternd, an den richtigen Stellen ironisch, erklärt der Roman Gott ist nicht schüchtern seinen Titel und spricht von einer Generation, deren Jugend unter den brutalen, unbarmherzigen Schatten einer Diktatur zugrunde ging.

Info

Gott ist nicht schüchtern Olga Grjasnowa Aufbau 2017, 309 S., 22 €

Die Bilder des Spezials

Peter van Agtmael, geboren 1981 in Washington D.C., ist Mitglied der berühmten Fotoagentur Magnum und mit einigen wichtigen Preisen ausgezeichnet worden. Van Agtmaels soeben erschienener Fotoband Buzzing at the Sill (Kehrer-Verlag, 192 Seiten, 39,90 Euro), aus dem die Bilder unserer Beilage stammen, ist voller oft dunkler, poetischer Arbeiten, in denen die USA wie ein unwiderruflich zerrissener Ort erscheinen. Den mysteriösen Titel verdankt Buzzing at the Sill einem Gedicht von Theodore Roethke, In a Dark Time („My soul, like some heat-maddened summer fly, keeps buzzing at the sill“). In der Auseinandersetzung des Fotokünstlers mit seinem Land sind immer auch ganz persönliche Stimmungen zu spüren: Unsicherheit, Angst und Hilflosigkeit angesichts einer absolut ungewissen Zukunft. Und gleich daneben kocht die Wut

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Geschrieben von

Büşra Delikaya | Büsra Delikaya

Studentin (Germanistik und Geschichte), Schreiberin, freie Journalistin

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