Dr. Tod auf Reisen

Alltag Der Leichenplastinator Gunther von Hagens will seine Zelte im polnischen Sieniawa aufstellen. Das Dorf ist zerrissen zwischen Markt und Moral. Und dann gibt es da auch noch ein Problem mit der Vergangenheit

Vierzig Kilometer entfernt von Cottbus durchschneidet die Lausitzer Neisse das weltberühmte Gartenreich von Bad Muskau. Jenseits des Flusses, auf polnischer Seite, führt die Landstraße durch eine Welt, die flach ist wie ein Tischbrett. Nur wenige Kilometer sind es bis Sieniawa Z.arska. Irgendwann tauchen im Schneegestöber die Schlote der Firma "Kronopol" auf, Produzent von Holzspanplatten und mit 30 Beschäftigten größter Arbeitgeber des Dorfes. An der einzigen Straße stehen Vorkriegshäuser und Villen, die an die glorreichen Zeiten der schlesischen Textilindustrie erinnern. Die hübsche Kirche und das Gymnasium markieren so etwas wie einen Ortskern.

"Unser Dorf ist außergewöhnlich groß und unterscheidet sich völlig von den übrigen der Region", sagt Gemeindesekretär Andrzej Chwiedarz stolz. Im Grunde müsse man von einer Stadt reden, immerhin gebe es über 1.000 Einwohner, darunter 100 Schüler. Chwiedarz ist froh, dass endlich jemand etwas über Sieniawa selbst schreiben will, dass der Besucher bemerkt, wie schön das Gymnasium renoviert worden ist. "Wir verfügen auch über eine sehr ordentliche Bibliothek, einen neu sanierten Gemeindesaal und eine Grundschule, alles von der Gemeindeverwaltung in Zary finanziert", betont der Gemeindesekretär. Für ein polnisches Dorf ist dies in der Tat außergewöhnlich.

Dass Sieniawa in Polen derzeit in aller Munde und sogar Thema in der Hauptnachrichtensendung Tele-Express geworden ist, hat aber weniger mit dem sanierten Gemeindesaal zu tun. Seit der deutsche Anatom Gunther von Hagens, Erfinder der so genannten Plastination und Organisator der international erfolgreichen wie umstrittenen Körperwelten-Ausstellung, in Sieniawa das Gelände einer alten Maschinenfabrik erworben hat, schaut ganz Polen gebannt auf das Dorf kurz vor der deutschen Grenze.

Es geht um 300 Arbeitsplätze in einer strukturschwachen Region und um eine Investition von 15 Millionen Euro. Es geht aber auch um Moral und - wie fast immer zwischen Deutschen und Polen - um die problematische Vergangenheit. Es gibt Enthüllungen im Wochentakt, die Sieniawa quasi zu einem morbiden Lehrstück für die schwierige Annäherung von Deutschen und Polen gemacht haben.

Zunächst waren sie hier alle froh, dass sich endlich jemand der verfallenden Fabrik annahm. Dann begannen die Spekulationen, die unweigerlich überall beginnen, wo Gunther von Hagens auf den Plan tritt. Der Mann mit dem Joseph-Beuys-Hut legt menschliche Leichen in Plastik ein, präpariert sie und erhebt sie zu Ausstellungsobjekten. "Plastinator" nennt er sich selbst, "Doktor Tod" nennen ihn Zeitungen. Seine Körperwelten-Ausstellungen tingeln durch die ganze Welt. Wo immer sie gastieren, teilt sich das Publikum in Freund und Feind, in faszinierte Besucher und aufgebrachte Ethiker. Derzeit ist die Schau der durch Plastik haltbar gemachten Menschen- und Tierleichen in Los Angeles und Chicago zu sehen. In Polen aber hat man sie nie gezeigt.

Gerüchte machten die Runde, von Hagens wolle seinen gesamten Leichenplastinationsbetrieb, der derzeit auf Heidelberg sowie auf entlegene Standorte in China und Kirgistan verteilt ist, nach Sieniawa überführen. In polnischen Zeitungen meldeten sich erste kritische Stimmen, der örtliche Bischof griff das Thema in einem Gottesdienst mahnend auf, in Online-Foren wurde die Arbeit des Anatoms mit dem Wirken der Nazis auf polnischem Boden verglichen. Die Präparate erinnerten an Seifen und andere Produkte, die die Nazis in Konzentrationslagern aus menschlichen Leichen herstellten. "Erlauben Sie nicht, dass es sich wiederholt", übermittelten Leute aus ganz Polen der zuständigen Dorfvorsteherin Krystyna Korzeniowska.

Irgendwann unter dem wachsenden Druck der polnischen Öffentlichkeit offenbarte von Hagens seine Pläne dem für Sieniawa zuständigen Gemeinderat der Stadt Zary. Von einer Verlagerung seiner Labors könne keine Rede sein, das Gelände sei zunächst zur Zwischenlagerung von "Ausstellungsgegenständen" gedacht. Möglich sei zudem die "Endfertigung" von aus Heidelberg angelieferten Menschen- und Tierpräparaten nach einem weltweit neuen Konservierungsverfahren. Diese "plastinierten" Leichenteile würden von Universitäten und Kliniken in aller Welt als Anschauungsmaterial benötigt, ließ von Hagens erklären. Polen habe er als Standort gewählt, weil die Bevölkerung überwiegend katholisch sei. Seine anatomische Arbeit sieht er nämlich in der Tradition der "Papstkirche in Rom". "Es waren die Päpste Italiens, die in der Renaissance in Padua und Bologna die Schirmherren des Beginns der Anatomie der Neuzeit waren." Als vertrauensbildende Maßnahme lud der Anatom drei Mitglieder des Gemeinderates auf eigene Kosten zur Körperwelten-Ausstellung in die USA ein.

Besonders ausführlich erklärte sich von Hagens zu den Nazi-Vergleichen: "Als nachgeborener Deutscher schäme ich mich für die Unmenschlichkeit, für den millionenfachen Mord der in deutschem Namen begangen wurde. Ich verneige mich vor den Opfern und versuche darüber hinaus das Erstarken neonazistischen Gedankenguts zu verhindern."

Es war ausgerechnet von Hagens Vater Gerhard Liebchen, der diese Erklärung dem Gemeinderat in Zary in fließendem Polnisch vortrug. Der 88-Jährige ist, wie auch sein Sohn, auf heute polnischem Gebiet in der Nähe von Posen geboren. Er hat sogar ein polnisches Gymnasium besucht. Da lag es wohl nahe, ihm die Geschäfte der "Von Hagens Plastination Company Sieniawa G.m.b.H." zu übertragen. Seit Monaten lebte Liebchen bereits in Sieniawa, erwarb eine Villa als Altersruhesitz, überwachte die Arbeiten auf dem Fabrikgelände und pflanzte eigenhändig Blumen an. "Der Deutsche sorgt für Arbeitsplätze, das ist doch gut", hieß es im Ort. Und der Verkäufer im Dorfladen meint: "Er redet immer nett mit mir, warum soll ich da nicht nett zu ihm sein?"

Doch dann passierte etwas Naheliegendes: Polnische Journalisten der Tageszeitung Rzeczpospolita erkundigten sich nach der Vergangenheit des rüstigen Rentners, und förderten mit ihren deutschen Kollegen des Spiegel Böses zu Tage. Gerhard Liebchen war einmal ein bekennender Nazi. Während des Zweiten Weltkrieges stieg er in den Rang eines SS-Unterscharführers auf. Im damaligen Warthegau soll er an der Verfolgung von Polen maßgeblich beteiligt gewesen sein und sogar Deportationslisten für Konzentrationslager erstellt haben. Bei der SS sei Liebchen unter der Mitgliedsnummer SS 374 728 registriert und sogar für eine Kriegsauszeichnung vorgeschlagen worden. Für seine Heirat habe er eine besondere Form der SS-Eheweihe gewählt. Aus der so geweihten Ehe ging am 10. Januar 1945 ein Sohn hervor, auf den Namen Gunter Gerhard Liebchen getauft. Es ist eben jener Sohn, der vom späteren Wohnsitz der Familie in der DDR nach Westen floh, als Anatom in Heidelberg Karriere machte und dann den Namen seiner Frau von Hagens übernahm.

Gerhard Liebchen ist inzwischen überstürzt aus Polen abgereist, wohnt nun vermutlich wieder in seinem Heidelberger Haus. Und von Hagens? Der zeigte sich in einer Erklärung aufrichtig bestürzt über die Enttarnung seines Vaters. Er habe nichts von dessen NS-Vergangenheit gewusst. "Mein Vater lehnte bisher jedes konkrete Gespräch über seine Kriegserlebnisse mit der Begründung ab, er wolle uns Kinder nicht mit der Vergangenheit belasten." Nun aber habe er erstmals offen geredet und angeboten, sich von den polnischen Geschäften zurückzuziehen und stattdessen einen polnischen Staatsbürger mit der Aufgabe zu betrauen. "Dieses Angebot habe ich angenommen", erklärte von Hagens weiter. "Ich halte es angesichts deutscher historischer Schuld, in der auch ich als Nachkriegsgeborener stehe, für unverzichtbar, dass mein Unternehmen personell jenseits allen Zweifels unbelastet ist." Doch der "Fall Liebchen" wird nun aufgerollt werden. Inzwischen kündigten Staatsanwalt Jozef Krenz und das polnische Institut für das nationale Gedächtnis Ermittlungen gegen den ehemaligen SS-Unterscharführer an.

Was nun aus der Investition wird in Sieniawa und aus dem Traum von 300 Arbeitsplätzen? Einige Jungs um die 20, die an der Haltestelle in den Bus einsteigen, haben sich große Hoffnungen auf einen Job im Plastinationsbetrieb gemacht. "Dagegen sind doch nur die Alten", sagen sie. Der Dorfpfarrer hält dagegen: "Diejenigen, die ›ja‹ zur Plastination sagen, wissen nicht, was sie tun."

Vor allem der Gemeinderat steckt in der Zwickmühle. Niemand will sich dem Vorwurf aussetzen, einen der so sehnlichst herbeigewünschten Investoren vertrieben zu haben. Einige Mitglieder wollen weiter mit von Hagens verhandeln. Der Sohn könne doch unmöglich für die Verbrechen des Vaters verantwortlich gemacht werden, argumentieren sie. "Die Menschen hier warten doch auf Arbeit", sagt die Dorfvorsteherin Krystyna Korzeniowska, "und schließlich werden sie bei der Dorfversammlung, die im Mai/Juni statt finden soll, entscheiden, falls Herr von Hagens hier her kommt." Jan Dzyga, Gemeindevorsteher von Sieniawa, hat sich an die Staatsanwaltschaft gewendet, um erst einmal zu klären, ob das Verfahren der "Plastination" in Polen überhaupt erlaubt ist. Am liebsten wäre es ihm, von Hagens würde sich nach den Enthüllungen über seinen Vater nun von selbst aus Polen zurückziehen. Dies wäre für die Gemeindevertreter die eleganteste Lösung. Doch bislang sieht es noch nicht danach aus, als würde von Hagens ihnen diesen Gefallen tun.


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