Eine Veranstaltung für Familien in der Münchner Stadtbibliothek Bogenhausen erhitzte vergangene Woche die Gemüter. Unter dem Titel „Wir lesen euch die Welt, wie sie euch gefällt“ lasen Drag Queens und Kings Kindern Geschichten vor. Männer in Frauenkleidern in der Nähe von Kindern? Freie Wähler und CSU liefen Sturm. Der bayerische Wirtschaftsminister Hubert Aiwanger (Freie Wähler) versah seinen Tweet zur Causa gleich mit den Hashtags #Kindeswohlgefährdung und #Jugendamt. Der konservativen Koalition in Bayern gehen im Vorfeld der Landtagswahl die Ideen aus. Ein Kulturkampf muss her!
Den will man nun aus den USA importieren, wo er bereits auf Hochtouren läuft: Republikanische Politiker und konservative Eltern führen einen Feldz
inen Feldzug in öffentlichen Bibliotheken und Schulausschüssen. Ihre Zielscheibe ist Kinder- und Schulliteratur, die das Erwachsenwerden und sexuelle Identität thematisiert. Ihr Feindbild ist die vermeintliche „woke-Ideologie“ des Antirassismus oder Feminismus, die angeblich an Schulen und in den Medien grassiert. Damit rechtfertigen sie, Bücher zu verbieten und die Rechte von LGBTQ-Personen einzuschränken – alles im Namen „traditioneller Werte“.Die CSU mobilisiert die Wählerschaft mit emotionalisierten IdentitätsfragenSo ein Kulturkampf ist günstig. Er erspart die Auseinandersetzung mit Sachthemen und mobilisiert die Wählerschaft mit hochemotionalen Identitätsfragen. Bei genauerem Hinsehen entlarven sich Kulturkämpfe als Scheindebatten: Sie geben nur vor, sich mit ihrem Gegenstand zu befassen. Diesseits wie jenseits des Atlantiks geht es den konservativen Wortführern um Kinderliteratur nur insofern, als dass sie für „woke-Ideologie“ stehen. Aber sie wiegeln die eigene Basis auf und motivieren sie. Die Republikaner erhoffen sich davon eine Rückkehr ins Weiße Haus.Die CSU hingegen hat ein Luxusproblem: Sie geht konkurrenzlos in die bayerische Landtagswahl, muss aber trotzdem Wahlkampf machen. Statt also auf landespolitischer Ebene mit der Opposition zu diskutieren, führt die CSU lieber Scheindebatten gegen Wokeness. Indem sie das tut, zementiert sie gleichzeitig die Überlegenheit ihres eigenen Wertekanons und der darin vorgezeichneten Lebensart. Laut ihrem kürzlich verabschiedeten Grundsatzprogramm ist die Wokeness eine Form von Extremismus und steht im Widerspruch zur „Liberalitas Bavariae“. Das lässt sich mit „Leben und Leben lassen“ übersetzen und steht für eine angeblich typisch bayerische Freizügigkeit. Die sieht die CSU bedroht und inszeniert sich als Beschützer, den das Wahlvolk braucht. Kurzfristig bringt das Stimmen.Langfristig geht die Bedrohung der bayerischen Lebensart jedoch nicht von Männern mit Schminke aus. Vor ein paar Wochen noch hatten die wenigsten jemals von Draglesungen für Kinder gehört oder eine Meinung dazu. Plötzlich gibt es zwei Fronten und vom politischen Bayer wird verlangt, zu wissen, auf welcher er steht. Er erliegt dabei der Illusion, dass es nur diese beiden Optionen gibt. Doch hierin liegt der eigentliche Import aus dem Zwei-Parteien-Staat der USA und die Gefahr für die politische Kultur hierzulande: Dass es nur zwei Sichtweisen auf einen Sachverhalt gibt und dass man sich auf eine der beiden Seiten zu schlagen hat. Die CSU betreibt durch ihre Kulturkämpfe eine schleichende Amerikanisierung der Liberalitas Bavariae. Damit zersetzt die Partei das, was sie ihren Wählern vorgibt, zu beschützen – und damit langfristig den eigenen Wahlerfolg.