Bis heute hat sich die Ukraine vor allem aus ökonomischen Gründen nicht von Russland lösen können. So überrascht es nicht, wenn auch beim Thema "Geschichtsaufarbeitung und Sowjetzeit" Parallelen unübersehbar sind. Während in Transformationsstaaten wie Polen (Freitag, 11. 5. 2001) oder Ungarn (s. Freitag, 1. 6. 2001) eine eingeschränkte Verfolgung zwischen 1945 und 1989 begangenen Unrechts stattgefunden hat oder noch stattfindet, beschränkt man sich in den beiden größten Nachfolgestaaten der UdSSR allein auf die Rehabilitierung und Entschädigung der Opfer von Repressionen. Die heutige Folge unserer Serie zeigt, dass dafür die Formel "Transformation = Umbruch + Kontinuität" von ausschlaggebender Bedeutung ist.
Die Ukraine n
Die Ukraine nach der Unabhängigkeit1990/91 Gestützt auf die Nationalbewegung Ruch artikuliert sich das Streben nach Austritt aus der UdSSR, verstärkt noch durch den Moskauer Putschversuch vom August 1991. Das Referendum über die Unabhängigkeit und die Präsidentschaftswahl am 1. Dezember 1991 erbringen ein klares Votum für die Eigenständigkeit beziehungsweise eine Amtsübernahme durch Leonid Krawtschuk, der wenig später mit Russland und Weißrussland die Gründung der GUS bekannt gibt - der Todesstoß für die UdSSR.1992 Der als gemäßigter Reformer geltende, ehemalige Generaldirektor des Rüstungskonzerns Juschmasch, Leonid Kutschma, wird Premier, kann jedoch die ökonomische Talfahrt nicht aufhalten.1994 Kutschma gewinnt gegen Krawtschuk die Präsidentschaftswahl, verfolgt ein Programm der wirtschaftlichen Tuchfühlung mit Russland und beendet 1996 den Streit mit Moskau um die Schwarzmeerflotte. Die Ukraine wird 1994 Mitglied der von Präsident Clinton und der NATO angebotenen Partnerschaft für den Frieden.1996 Die neue Verfassung definiert die Ukraine als "souveränen, unabhängigen, demokratischen sowie sozialen und einheitlichen Rechtsstaat", dessen Ökonomie durch ein "marktwirtschaftliches System" bestimmt ist.1997 Kuschma nennt als Fernziel eine NATO-Mitgliedschaft und unterzeichnet eine Versöhnungserklärung mit Polen. Bei der Parlamentswahl im März scheitert Kutschmas Demokratische Volkspartei, während die KP auf 26 Prozent der Stimmen kommt.1999 Im November wird Kutschma bei der Präsidentschaftswahl in seinem Amt bestätigt und kündigt mehr Reformdynamik an, um einen drohenden Staatsbankrott abzuwenden. Für diesen Kurs bürgt vor allem die Nominierung des neuen Premiers Viktor Juschtschenko.2001 Kutschma gerät durch das Verschwinden des Journalisten Gongadse innenpolitisch in erhebliche Bedrängnis, sieht sich der Forderung nach einer Amtsenthebung gegenüber und entlässt die Regierung Juschtschenko. Im 1. Quartal 2001 verzeichnet die Wirtschaft erstmals seit Jahren eine leichtes Wachstum.Am frühen Morgen des 9. März 2000 standen einige Funktionäre der Kommunistischen Partei der Ukraine (KPU) in ihrer Kiewer Zentrale vor verschlossenen Türen. Elf junge Menschen hatten sich dort verbarrikadiert, um an diesem außergewöhnlichen Ort ihre Vereinigung Selbstständige Ukraine zu gründen. "Wir wollen die Wahrheit erfahren über die Vergangenheit in unserer Heimat, wir fordern das Verbot der KP und eine Lustration (*) des öffentlichen Dienstes", proklamierte die Mitgründerin, Natalka Nemtschynowa, den Zweck des Bundes. Für manche Ukrainer galten diese jungen Leute als wahre Patrioten, für den größten Teil der Bevölkerung jedoch schlichtweg als "Randalierer". Vergangenheitsbewältigung war in diesem Land nach der staatlichen Unabhängigkeit von 1991 (s. Übersicht) nie wirklich aktuell. Das verwundert, denn gerade die Ukraine hatte zu Zeiten der UdSSR unter manchen Härten zu leiden. Die künstlich herbeigeführten Hungersnöte von 1932/33 und 1946/47 kosteten Millionen das Leben. Hinzu kamen die Opfer von Kulaken-Verfolgung und Zwangsumsiedlungen. Derartige Repressalien waren nicht nur ideologisch motiviert - es kam stets ein nationalitätenpolitisches Kalkül hinzu. Die Ukraine sollte lediglich als "kleine Schwester" Russlands wahrgenommen werden. Regungen nationalpatriotischen Selbstbewusstseins wurden unterdrückt. Viele ukrainische Intellektuelle - vorrangig Schriftsteller und Wissenschaftler - starben in Gefängnissen und Arbeitslagern oder wurden in psychiatrischen Anstalten zwangsbehandelt. Ukrainisch galt als "Sprache der Ungebildeten". Eine Herabwürdigung, um das Eigenständige der ukrainischen Geschichte auszulöschen.Spagat I - eigenständig Nationales, sowjetisches ErbeNach der Unabhängigkeitserklärung vom Dezember 1991 war dieses entfremdende Geschichtsbild obsolet. Auserwählte Hofhistoriker der bereits ein Jahr zuvor ins Amt gekommenen Administration des Präsidenten Leonid Krawtschuk begannen gemäß der "nation-building-Doktrin" die Historie einer Neubewertung zu unterziehen, was einen Spagat heraufbeschwor, sollte doch das eigenständig Nationale mit dem sowjetischen Erbe verschmelzen. Ökonomisch und geopolitisch blieben die Bande mit Russland auch nach 1991 viel zu eng, um einen fundamentalen Bruch riskieren zu können. Außerdem hatte bis 1990 kaum jemand mit der Unabhängigkeit gerechnet, die insofern weder zur scharfen Zäsur geriet, noch mit einem tiefgreifenden Elitenwechsel verbunden war. Entscheidende Positionen auch in der Rechtsprechung blieben durch die bisherige Nomenklatura besetzt, die sich berufen sah, das Volk nur äußerst behutsam an Wahrheiten über die sowjetische Ära der Ukraine heranführen. Diese Vorgehen führte zu einer Doppelstrategie aus Aufklärung und Vertuschung, deren Konsequenz darin bestand, einerseits gesetzliche Regelungen für die - auch materielle - Rehabilitierung von Verfolgten der Sowjetzeit zu verabschieden, andererseits begangenes Unrechts nicht durch eine entsprechende Strafverfolgung zu ahnden.Die Rechtsgrundlage für Rehabilitierungen ergab sich größtenteils aus Gesetzestexten, die bereits vor der Unabhängigkeitserklärung als Rechtsakte der späten Sowjetunion unter Gorbatschow entstanden waren. Sie unterschieden sich sowohl hinsichtlich des von Wiedergutmachung betroffenen Personenkreises als auch der Entschädigungsmodalitäten kaum von der russischen Praxis (s. Freitag, 18.5. 2001). Erstaunlicherweise wurden in Kiew noch nie Angaben über die Zahl der Rehabilitierten veröffentlicht. Die Allukrainische Gesellschaft der Polithäftlinge und Verfolgten (AGPV) greift bei Nachfragen auf eigene Schätzungen zurück: Allein in der Westukraine müsse die Zahl bereits entschiedener oder unmittelbar vor der Entscheidung stehender Fälle auf 400.000 beziffert werden. Die AGPV macht auch auf ukrainische Spezifika aufmerksam, die sich besonders mit dem von Rehabilitierungen ausgeschlossenen Personenkreis zeigen, den "bewaffneten Formationen". Gemeint sind antikommunistische Freischärler der Ukrainischen Aufständischen Armee (UPA), des militärischen Arms der OUN (Organisation Ukrainischer Nationalisten). Sie führten bis 1952 im Westen des Landes einen verbissenen Partisanenkrieg gegen die Sowjetarmee und hatten während des Zweiten Weltkrieges mit der deutschen Wehrmacht kollaboriert. Ein abschließendes Urteil über die UPA durch eine Entscheidung der Rada, des ukrainischen Parlaments, steht bis heute aus.Problematisch sind die im Entschädigungsgesetz auf drei Jahre festgelegten Fristen für Rehabilitierungsanträge, ebenso die stockenden Auszahlungen der Abfindungen. Ein Umstand, der auf die Finanzmisere des Staates weist und Präsident Kutschma schon veranlasste, per Ukas im Interesse der Opfer zu intervenieren.Spagat II - rehabilitierte Opfer, unbehelligte TäterWo Opfer sind, gibt es in der Regel auch Täter. Die seit 1991 obwaltenden Regierungen in Kiew haben sich nie zu dieser Schlussfolgerung durchringen können. Im Rausch der Unabhängigkeit wurde zwar die KP wegen ihrer Verwicklung in den misslungenen Putschversuch orthodox-kommunistischer Kräfte am 19. August 1991 in Moskau verboten, doch konnte sich die Partei bereits 1993 unter leicht verändertem Namen erneut registrieren lassen. Im Parlament nehmen die Kommunisten mittlerweile ein Viertel aller Sitze ein und dürften vermutlich jeden Gesetzesvorstoß zu einer umfassenden Strafverfolgung vor 1990 begangener Verbrechen und Vergehen wie Totschlag, Amtsmissbrauch, Bereicherung oder Rechtsbeugung zu verhindern suchen. Die neue ukrainische Verfassung von 1996 bekennt sich überdies im Artikel 58 ausdrücklich zum Rückwirkungsverbot, wonach niemand für Handlungen strafrechtlich zur Verantwortung gezogen werden darf, die zur Zeit ihrer Begehung nicht strafbar waren. Ein zusätzlicher Schutzschild für einstige Angehörige von Armee, Polizei oder Sicherheitsdienst sind geltende Gesetze über die Wahrung von Staatsgeheimnissen. Eine rückhaltslose Aufklärung über während der kommunistischen Ära begangenes Unrecht ist aus Sicht der heutigen Nomenklatura ganz offenkundig nicht erwünscht. Nur ein relevantes Indiz dafür ist die stete Verlängerung von Sperrfristen für staatliche Archive. Ins Gewicht fällt bei alldem auch die finanzielle Misere solcher Institutionen wie der Allukrainischen Gesellschaft Memorial, die sich um eine Aufarbeitung der Vergangenheit bemüht. Von hohen Auflagen und regelmäßigem Erscheinen können Zeitschriften wie Zona (Herausgeber AGPV) oder Bil ("Der Schmerz" / Memorial) nur träumen. Eingeengt durch den politischen Kontext blicken viele Aktivisten daher in Richtung Weltöffentlichkeit. Dmytro Ponamartschuk erinnert an den Mitte der neunziger Jahre von seiner Partei Volksruch der Ukraine (NRU) verfassten Appell an alle Regierungen der Welt, "ein Gericht über die kommunistische Ideologie und ihre Verbrechen" zu organisieren. Der gleiche Aufruf kam 1995 aus den Reihen von AGPV, blieb aber ohne Resonanz. "Wir brauchen einen zweiten Nürnberger Prozess für die Kommunisten, um uns aus unserer Vergangenheit zu lösen", fordert Ponamartschuk, doch diese Rufe verhallen schon in der Ukraine.Der materielle Schaden für die Kommunistische Partei, hervorgerufen durch den eingangs geschilderten Protestakt der Selbstständigen Ukraine, hielt sich in Grenzen: Mit nationalistischen Sprüchen beschmierte Tapeten und ein zerstörtes Gemälde Lenin im Smolny. Hohe Wellen unter potenziellen Sympathisanten schlug die Aktion ohnehin nicht. Kein Wunder, ist doch das heutige Geschichtsbild der Ukraine nicht durch Konfrontation, sondern durch Neutralität gegenüber der Vergangenheit geprägt und dem Bemühen untergeordnet, ein fragiles gesellschaftliches Gleichgewicht nicht zu gefährden.(*) Überprüfung der Mitarbeiter wegen einer möglichen Mitarbeit bei früheren staatlichen Sicherheitsdiensten.
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