Dreck

Gebrauchswertversprechen Was EU-Bürokraten unter Lebensmittelsicherheit verstehen

"Dreck! Dreck! O süßes Wort! Dreck! schmeck!" Dieser Ausspruch Mozarts in seinen Briefen ans "Bäsle" trifft auf viele von Gourmets hochgeschätzte Delikatessen zu: Austern-Ei, kalter Egg-pop und viele andere Ei-Spezialitäten, Andouille (Delikatesswurst aus Kalbsgekröse), Eisparfait und Demiglace, Zwiebel-Met und Beef Tartare, hergestellt aus Teilen des frischen Lauchgewächses, Würchwitzer Spinnekäse, den erst die mitzuessenden Milben färben, Kuttelflecksuppe, das nährstoffreiche Hühnerklein, bestehend aus Kopf, Flügel, Magen, Leber und Kamm des Geflügels, Wild mit dem charakteristischen Hautgout (Geruch von Fleischeiweiß im ersten Grad der Verwesung) ...

Nach dem Willen der European Food Safety Authority ist das eine Anhäufung von "unsicherem" Dreck, jedes Produkt für sich genommen eine Gefahrenquelle höchsten Ausmaßes, der auch mit einer optimierten Gefahrenanalyse samt guter Hygienepraxis nicht beizukommen ist. "Sicherheit" ist zur wichtigsten Maxime der Lebensmittelkontrollbehörde geworden. Vorbei sind die unternehmerfeindlichen Zeiten, in denen noch robust von verdorbenen, ja gesundheitsschädlichen Produkten in Gesetzestexten und Gutachten die Rede war. Heute ist stinkendes Gammelfleisch schlicht "unsicher". Klingt doch viel hübscher und erhält den Glauben an die Segnungen der Marktwirtschaft. Der Begriff "wholesome" (gesund) taucht hingegen in den EU-Regularien selten auf, ebenso wenig wie "nutrious" (nahrhaft) oder gar "tasty" (schmackhaft).

Wenn so viele Delikatessen nun als "unsicher" abserviert werden, was ist dann nach Ansicht der Europäischen Lebensmittelbehörde eigentlich "sicher"? Denaturierte Erdbeeren in Joghurt, bei denen durch Aroma- und Farbstoffe wieder eine Art Geschmack vorgetäuscht wird? Oder Fish Fingers (Fischfleischformstücke), bei denen das Paprikapulver in der Panade gnädig verbirgt, was wirklich drinsteckt (zum Beispiel aus Bauchlappen gewonnenes "Fischmus")? Oder gar Hackfleisch - früher nur einen Tag haltbar, das jetzt durch Begasung (pardon: Aufbewahrung in "kontrollierter Atmosphäre") angeblich bis zu fünf Tagen "sicher" genusstauglich gehalten wird?

Mit einem Wort: "Sicher" ist im EU-Jargon ein Synonym für das "Absichern" einer standardisierten, möglichst profitablen, denaturierten, industriellen Nahrungsmittel-Produktion. Die EU-Regularien sollen "sicher" stellen, dass der schon im Kindergarten durch Fertigprodukte und Obst aus Hybrid-Züchtungen andressierte Geschmacksverlust die Konsumenten von Fertig-Suppen, Backrohr-Pommes oder Fischstäbchen bei Blindverkostungen höchstens noch erraten lässt, von welcher Firma der Convenience-Fraß kommt. Oder umgekehrt, dass die frisch geschälten und mit Butter oder gar Sahne angerichteten pommes en purée als abwegig schmeckend zurückgewiesen werden.

Aus diesem Blickwinkel betrachtet, macht es sogar Sinn, dass das in der Verordnung des Europäischen Rates über Lebensmittelhygiene (Nr. 852/2004) propagierte Food Safety Management System HACCP (Hazard Analysis/ Critical Control Point - Gefahrenanalyse/ Kritischer Kontrollpunkt) voll ins umfassendere betriebliche Management System ISO 9000ff. integriert werden kann. Denn ISO 9000ff. lässt ebenfalls die Zertifizierung jedes "sicheren" Drecks zu (etwa "sicher" nur einmal waschbare T-Shirts).

Die unter gebildeten Brüsseler Bürokraten vielleicht vorhandene Kenntnis um die Herkunft des Wortes "sicher" aus dem Lateinischen "securo", was auch "sorglos, unbekümmert" bedeutet, kann aber auch als diskrete Ankündigung gedeutet werden, wie wenig sich die Gemeinschaft im Interesse des freien Marktes um die mit ihrem Regelwerk eng verbundenen Kollateralschäden kümmert. "Sicher"heitshalber hat die Brüssler Verwaltung zur Rechtfertigung ihrer eingeengten Wahrnehmung gleich eine moderne Form des Solipsismus mitentwickelt. Nach den juristischen Vorgaben der HACCP-Verordnung existieren Sachverhalte nämlich überhaupt nur, wenn sie auf Papieren oder elektronischen Datenträgern dokumentiert wurden. Entsprechend dieser Realitätsverweigerung hängt die "Sicherheit" der Konsumenten und Konsumentinnen vorrangig von der Rückverfolgbarkeit auf Datenträgern, nicht aber von der Dichte und Effektivität lebensmittelpolizeilicher Überwachung ab - ein EDV-Solipsisismus, der nach einem Ausspruch Schopenhauers samt seinen philosophischen Vorläufern ins Tollhaus gehört.


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