Wörter, rein oder dreckig: Über Südtirols verlogene Sprachpolitik

Politische Korrektheit Die vielgelobte Dreisprachigkeit gibt es in Südtirol überhaupt nicht. Die Sprachpolitik in der autonomen Provinz ist verlogen. Davon, von Liebe und Obsession erzählt Maddelena Fingerles Roman
Ausgabe 10/2022
Zweisprachige Straßenschilder sind für viele Deutsche ein Grund mehr, in Südtirol Urlaub zu machen. Nur verstehen muss man sie dann auch
Zweisprachige Straßenschilder sind für viele Deutsche ein Grund mehr, in Südtirol Urlaub zu machen. Nur verstehen muss man sie dann auch

Foto: Arnulf Hettrich/IMAGO

Hilde Domin zeigt in ihrem bekannten Gedicht Unaufhaltsam, wie Wörter uns schmerzlicher treffen können als Messer. Dass Wörter einem sogar dreckig vorkommen können, davon erzählt der Debütroman Muttersprache der gebürtigen Südtirolerin Maddalena Fingerle, Jahrgang 1993. Das in Italien mehrfach prämierte Buch liegt nun in deutscher Übersetzung beim feinen Folio-Verlag vor.

Fingerles Protagonist und 18-jähriger Ich-Erzähler Paolo Prescher hat zu Wörtern ein teils synästhetisches Verhältnis. Jedes Wort assoziiert er mit einem Geruch, einer Farbe. Aber vor allem teilt er Wörter in „rein“ oder „dreckig“ ein. Dies hängt stark davon ab, wer die Wörter ausspricht und ob sie das aussagen, was sie aussagen: „Kacke ist ein sehr viel reinlicheres Wort als Notdurft oder Bedürfnis.“ Paolo stört sich nicht nur an den heuchlerischen Sprachkonventionen seiner Familie, sondern auch an der Sprachpolitik in Südtirol. Er widersetzt sich dem politisch Korrekten und sagt „Deutscher“ statt „Südtiroler deutscher Muttersprache“, sagt „negro“/„Nigger“ statt Schwarzer und findet die faschistischen Protzbauten Mussolinis in Bozen schön. Dennoch ist er kein Chauvi, denn er widersetzt sich, zu erklären, welcher Sprachgruppe er sich zuordnen möchte, was nach dem Autonomiestatut 1972 jede:r Bürger:in Südtirol angeben muss, um den Proporz der Bevölkerung in der Verwaltung widerzuspiegeln. Diesbezüglich erzürnt sich Paolo, dass jede:r sich eine Muttersprache aussuchen kann, auch wenn er oder sie die Sprache kaum kennt – nur um sich bessere Jobchancen auszurechnen.

Nach dem Tod des Vaters schwört sich Paolo, kein Wort Italienisch mehr zu sprechen, sondern nur noch Deutsch, und flüchtet von Bozen nach Berlin. Dort erscheinen ihm die Wörter rein. Noch mehr, als er Mira di Pienaglossa kennenlernt und sich in sie verliebt. Mit ihr spricht er wieder Italienisch, denn aus ihr kommen saubere Wörter. Er ist nun glücklich – umso mehr, als er erfährt, dass sie von ihm schwanger ist. Sie beschließen, nach Bozen umzuziehen. Doch dort fangen die Probleme mit den dreckigen Wörtern erneut an und Paolo versucht obsessiv, sie zu reinigen …

Fingerle macht zu Recht darauf aufmerksam, welche Absurditäten in Südtirol herrschen aufgrund des Autonomiestatuts, das nicht das Miteinander fördert, sondern das Nebeneinander verstetigt. Die vielgelobte Zwei-/Dreisprachigkeit gibt es de facto nicht, da es einsprachige Schulen gibt und Schüler:innen die jeweils anderen Landessprachen (Italienisch, Deutsch, Ladinisch) ungern lernen, da sie sie als aufgezwungen empfinden. Zudem verweist der Text darauf, dass das Hochdeutsche auf keine große Gegenliebe stößt, da die meisten Deutschsprachigen ihren Südtiroler Dialekt reden.

Dennoch ist Fingerles Roman insgesamt nicht überzeugend genug. Zunächst ist der Plot arg inkohärent. Einige Beispiele: Paolo findet faschistische Bauten toll, in Berlin jedoch scheint er kein Interesse an Nazi-Bauten zu finden – er hätte etwa das ehemalige Reichsluftfahrtministerium, das heutige Bundesfinanzministerium, schön finden können. Überhaupt Berlin. Man merkt gar nicht, dass er dort ist. Es könnte auch Bielefeld oder Backnang sein. Unglaubwürdig erscheint zudem, dass Paolo in Berlin gar nicht das Nachtleben erkundet. Doch auf völliges Unverständnis stößt, dass Paolo im deutschen beziehungsweise Berliner Diskurs keine Heuchelei, keine Verlogenheit findet. Kurz: Fingerles Muttersprache ist leider zu einem plapperhaften Thesenroman verkommen.

Welche literarischen Tugenden sollte ein Werk haben? Die Autorin hätte sich an eines ihrer literarischen Vorbilder, Italo Calvino, halten sollen, der in seinen Sechs Vorschlägen für das nächste Jahrtausend unter anderem Schnelligkeit, Genauigkeit und Vielschichtigkeit propagiert.

Info

Muttersprache Maddalena Fingerle Maria Elisabeth Brunner (Übers.), Folio Verlag 2022, 180 S., 22 €

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