Auf dem zweiten Stock eines schmucken Hauses in der Zürcher Altstadt befindet sich das Theater Neumarkt, das jetzt nur noch Neumarkt heißt. Das Haus hat eine bewegte Geschichte: Als Zunfthaus der Schuhmacher gebaut, wurde es zur Töchterschule, dann in den 1920er Jahren zum Versammlungs- und Diskussionsort der Arbeiterbewegung, bis es 1966 schließlich als zweites Stadttheater eröffnet wurde. Diese Tradition des Aufbruchs verpflichtet – die drei Intendantinnen knüpfen daran an und machen dabei sehr viel richtig.
Unter dem Schlachtruf „Love, Play, Fight!“ und mit dem Bekenntnis zum „Unbedingten Theater“ leiten Hayat Erdoğan, Tine Milz und Julia Reichert das Haus seit zwei Jahren. Alle drei haben lange Erfahrungen mit und in der T
d in der Theaterszene und sind im weitesten Sinne Dramaturginnen: Hayat Erdoğan leitete davor den Dramaturgie-Studiengang an der Zürcher Hochschule der Künste, Tine Milz war Dramaturgin an den Münchner Kammerspielen und anderen Häusern und Julia Reichert leitete das Schauspiel am Luzerner Theater ad interim und war auch schon am Neumarkt als Dramaturgin engagiert. Die drei haben das kleine Neumarkt – je nach Bestuhlung bietet es Platz für bis zu 170 Menschen – zum Vierspartenhaus ausgebaut: Die Sparte Playground steht für künstlerische Experimente und Praxen der Kunstproduktion außerhalb eingeübter Routinen und Abläufe. In der Sparte Theater werden unterschiedliche und zeitgenössische Formate, Ästhetiken und Stoffe jenseits des Kanons auf die Bühne gebracht. Die Akademie soll Wissen und Denkmuster hinterfragen und vor allem diskursive Formate bieten. Und schließlich: Die Sparte Digital wurde mit dem Lockdown eingeführt und steht für das Internet als eigenen Raum, der mehr bietet als Streams und Aufzeichnungen. Bereits der Anfang ihrer Intendanz im Herbst 2019 war ein Paukenschlag: Sie luden im Rahmen der Eröffnungsproduktion They Shoot Horses, Don’t They? zur Medienkonferenz im Zürcher Hauptbahnhof, auf der sie behaupteten, der Schweizer Waffenhersteller Ruag würde sich ein Rebrand zu Ruag Green geben, wolle nachhaltig werden und künftig auf Waffenhandel verzichten. Die offensichtliche Falschmeldung hielt sich mehrere Stunden, bis die Ruag selbst einschritt und aufklärte. Bei der Aktion ging es nicht um Aufmerksamkeit durch einen Coup, sondern durchaus um künstlerische und politische Positionierung der neuen Leitung, sagt Erdoğan. Im Februar 2020 knüpften sie an die Tradition des Neumarkt als Sanatorium an, das die Immobilie ebenfalls mal war, und bauten Saal, Foyer und Backstagebereich kurzerhand in einen Wellnessbereich mit Sauna um, der zwei Wochen mitsamt Rahmenprogramm besucht werden konnte. Wann und wo sonst kann man als Publikum bei 80 Grad nackt in einem Theater schwitzen? Die Koproduktion Nouvelle Nahda mit der freien Produktionsstätte Station Beirut sollte eigentlich im April 2020 gespielt werden, im Lockdown wurde daraus eine herausstehende Online-Publikation, eine Plakataktion in Zürich mit Bildern aus Beirut nach der Explosion und schließlich ein ganzer Film, der gerade in den Kinos läuft.Umgang auf AugenhöheDie Neumarkt-Themen haben eine Dringlichkeit: Im Stück Whistleblowerin/Elektra erzählten Regisseurin Anna-Sophie Mahler und die Journalistin Sylke Gruhnwald dokumentarisch die Geschichte von Yasmine Motarjemi, die bei Nestlé als hoch qualifizierte Global-Food-Safety-Managerin einstieg, Mobbing erlebte, gekündigt wurde, dagegen vor Gericht ging und 15 Jahre später wider alle Wahrscheinlichkeit gewann. Musikalisch begleitet wurde es mit Arien aus Strauss’ Oper Elektra, gesungen von Mona Somm, die selbst Übergriffe und Belästigung an den Festspielen Erl öffentlich gemacht und sich dagegen zur Wehr gesetzt hatte. Und ansonsten? Die Leiterinnen luden beispielsweise Benny Claessens als Regisseur ein, koproduzierten mit dem Theater Hora, das Menschen mit geistigen Beeinträchtigungen eine Bühne gibt, und nahmen echte Tauben ins Ensemble auf, die gerade um die Welt touren. Mit der Intendanz der drei Frauen hielt ein neuer Leitungsstil Einzug, der auf Starallüren und Arroganz verzichtet. Während aus anderen Häusern derzeit vermehrt Berichte über Machtmissbrauch an die Öffentlichkeit gelangen, basiert der Umgang hier auf Augenhöhe. „Wir haben uns nicht bewusst dazu entschieden, den Umgang so oder so zu gestalten. Wir wussten einfach, was wir alles nicht wollen“, erzählt Erdoğan. Der Rest entstehe im Prozess mit allen Künstler*innen und Mitarbeiter*innen zusammen, ergänzt Reichert. Und selbstverständlich sei nicht immer alles rosig, aber Konflikte seien nicht unüberwindbar, wenn man sich daran erinnere, wieso man das hier tue, so Milz. Das neue Leitungsmodell macht sich auch unmittelbar in den Gehältern bemerkbar: Seit der zweiten Saison werden Gagen für alle Künstler*innen anhand eines transparenten und egalitären Gagensystems errechnet. Dafür wurde das Budget nicht erhöht, es sei der Versuch, die Ressourcen gerechter und transparenter zu verteilen.Ob die geteilte Leitung etwas wäre, womit die vielen fundamentalen Probleme im deutschsprachigen Theater angegangen werden könnten? „Ja, sicher“, meint Milz, „bei uns ist Vielfalt in der DNA, wir müssen sie nicht erst zwanghaft herstellen“, womit sie auf 100-prozentige Frauenquoten anspielt, wie beispielsweise am Badischen Staatstheater in Karlsruhe.Als Gast fühlt man sich im Neumarkt so willkommen wie sonst selten. Diese Gastfreundschaft sei ihnen sehr wichtig, erklärt Milz. Sie wollen anknüpfen an die Tradition des Theaters als Versammlungs- und Diskussionsort – aber für alle, auch für Menschen, die mit Theater und Hochkultur nicht viel am Hut haben. Um mehr Zugänglichkeit zu schaffen, gilt beim Ticketkauf ein Wahlpreismodell: Besucher*innen entscheiden selbst, ob sie 15, 30 oder den üblichen Preis von 45 Schweizer Franken zahlen möchten. Einbußen gab es dadurch nicht, das Vertrauen darauf, dass jene, die mehr zahlen können, das auch tun, ging auf. Die Gastfreundschaft gilt aber nicht nur nach außen, sondern auch nach innen, sagt Erdoğan. „Wir wollen, dass sich hier alle willkommen und wohlfühlen.“ Die Mitarbeiter*innen, etwa in der Technik, würden ihnen gegenüber auch äußern, dass sie die Veränderung im Ton merken und schätzen. Die drei Frauen verwehren sich dagegen, dass sie angetreten seien, um eine Revolution auszulösen. Und das mit gutem Grund: Sie müssen nicht erst pompös proklamieren, was sie alles anders machen würden – sie tun es einfach.
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