Das traditionelle Reinheitsgebot "Ein Betrieb - eine Gewerkschaft" ist zumindest auf Konzernebene längst nicht mehr einzuhalten. Zu unübersichtlich sind die Branchen. Die Angestellten im Bereich Banken und Finanzdienstleistungen beispielsweise werden von drei Gewerkschaften (ÖTV, HBV und DAG) umworben. In der Informations- und Kommunikationstechnologie sind daneben auch die IG Metall, die Postgewerkschaft und die Gewerkschaft Bergbau, Energie und Chemie vertreten. Die Vereinigung der Dienstleistungsgewerkschaften (ver.di) soll zumindest eine gewisse "Flurbereinigung" bringen und betriebliche Gewerkschaftskonkurrenz vermeiden. Fünf gleichzeitig tagende Gewerkschaftskongresse waren in dieser Woche aufgerufen, grünes Licht zu geben für die Fusion der Gewerkschaft Öffentliche Dienste, Transport und Verkehr (ÖTV), der Gewerkschaft Handel, Banken und Versicherungen (HBV), der Deutschen Postgewerkschaft (DPG), der Industriegewerkschaft Medien (IG Medien) und der Deutschen Angestellten-Gewerkschaft (DAG) zur neuen Super-Gewerkschaft mit dem musikalischen Kürzel.
"Wir sind uns bewusst, dass Inhalte und Visionen noch fehlen", räumt ÖTV-Vorsitzender Herbert Mai unumwunden ein. Ziel der Fusion sei es, die Interessen der Gewerkschaftsmitglieder besser zu vertreten, "ihnen einen besseren Service und eine bessere Mitgliederbetreuung bieten zu können. Ziel ist auch, mehr Möglichkeiten für die Durchsetzung politischer Inhalte oder von Tarifzielen zu erhalten", also durch "Stärke und Macht einen stärkeren Gestaltungseinfluss ausüben zu können", so der ÖTV-Vorsitzende, der als treibende Kraft der Vereinigung gilt.
Besonders wichtig ist den Fusionsbetreibern die Einbeziehung der Deutschen Angestellten-Gewerkschaft. Die Rückkehr der DAG in den Schoß des DGB wird als Überwindung der Spaltung der Gewerkschaftsbewegung gefeiert. Doch die über Jahrzehnte sorgsam gepflegten Animositäten können auf beiden Seiten nicht so schnell abgebaut werden. Bis vor kurzem noch sind zum Beispiel DAG und HBV bei Tarifverhandlungen regelmäßig aneinander geraten, weil die DAG nach Ansicht der HBV den Arbeitgebern zu schnell und zu weit entgegengekommen war. Die eher "links" eingestellten Gewerkschafter von HBV und IG Medien fürchten eine "sozialpartnerschaftliche" Prägung der neuen ver.di-Gewerkschaft durch ÖTV und DAG.
Hinter der Fusion der fünf Gewerkschaften steht auch finanzielle Not. Die Mitgliederzahlen sind überall rückläufig, eine flächendeckende Präsenz können insbesondere die kleinen Gewerkschaften nicht mehr gewährleisten. Und in den neuen Dienstleistungsbranchen, insbesondere der Informationstechnologie und der Telekommunikation, sind die Gewerkschaften schwach bis gar nicht vertreten. "Dort entscheidet sich die Zukunft der Gewerkschaften", glaubt nicht nur DAG-Chef Roland Issen. Durch den Zusammenschluss erhoffen sich die einzelnen Partner "Synergieeffekte". Das vorhandene Personal und die geringeren Geldmittel sollen effizienter eingesetzt werden.
Die neue Gewerkschaft ver.di wird mit knapp über drei Millionen Mitgliedern - vorausgesetzt, es treten alle über - und 4.500 Beschäftigten die grösste Einzelgewerkschaft im Deutschen Gewerkschaftsbund und vermutlich der ganzen Welt sein. Sie wird in drei regionale und 13 fachspezifische Ebenen aufgegliedert. Die regionalen Ebenen sind: der Bund, der Landesbezirk und der Bezirk (einer oder mehrere Kreise). Auf jeder Ebene werden Fachbereiche gebildet, von den Finanzdienstleistungen (Banken und Versicherungen) über die Telekommunikation bis zu Kunst und Kultur, Medien und industriellen Diensten.
Doch wie die jetzt ausgetüftelte "Matrixorganisation" in der Praxis genau funktionieren soll, ist noch völlig offen. Auf der regionalen Ebene ist nicht nur unklar, welcher Ort zu welchem Bezirk gehören soll, es ist in etlichen Bundesländern wie Nordrhein-Westfalen, Bayern und Hessen völlig unentschieden, wie viele Bezirke überhaupt gebildet werden sollen. Die kleine HBV will zum Beispiel weniger und dafür große Bezirke, die ÖTV hingegen ihr engmaschiges Netz von Kreisgeschäftsstellen behalten.
Der kritischste Punkt im Organisationsaufbau ist die Rolle der Fachbereiche. Die kleinen Gewerkschaften HBV, DAG, DPG und IG Medien wollen ihnen ein hohes Maß an Unabhängigkeit und Verantwortlichkeit geben, denn nur dort können sie ihre eigenen, vielfach auf ehrenamtlicher Tätigkeit ruhenden Traditionen einigermaßen fortführen. Die immer schon zentralistischer denkende ÖTV hingegen fürchtet eine unkontrollierte Unübersichtlichkeit und möchte die Tarifpolitik und die Entscheidungsbefugnis über Streiks nicht allein den Fachbereichen in die Hände legen.
Trotz aller Widerstände in Teilen der Mitgliedschaft und bei einigen Funktionsträgern ist ver.di wohl kaum noch zu verhindern. Schon im Januar 2000 soll eine Kartellgewerkschaft "ver.di in Gründung e.V." gebildet werden. Die fusionierenden Gewerkschaften sind aufgerufen, jede für sich ebenfalls die Rechtsform eines Vereins anzunehmen und im Jahr 2001 dann in ver.di aufzugehen.
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