Dreimal Peitsche, einmal Zuckerbrot

ÖSTERREICH Die Deklassierung des Sozialen und Formatierung der Gehirne unter der ÖVP/FPÖ-Koalition

Derzeit wird in Österreich eifrig gestrichen, was die Ausgaben betrifft, beziehungsweise erhöht und vervielfacht, was die Einnahmen des Staates angeht. Das Pensionsalter wurde faktisch hinaufgesetzt, indem die Kriterien für Frühpensionen verschärft worden sind. Im öffentlichen Dienst gibt es einen Aufnahmestopp, für natürliche Abgänge soll nicht nachbesetzt werden. Studierende müssen künftig pro Semester knapp über 700 DM an Studiengebühren entrichten. Privatisiert werden: Spitäler, Telefon, Post, Gas, Wald - nur das Wasser will man unter öffentlicher Hoheit belassen. Weiter wird das Arbeitsrecht systematisch ausgehöhlt, die Unfallrente von der Steuerfreiheit befreit, und die Arbeitslosen werden zusehends drangsaliert. Die Negativsteuer, das heißt die staatliche Gutschrift für Einkommen unter dem steuerlichen Existenzminimum, soll empfindlich gekürzt, der Arbeitnehmerfreibetrag gar auf die Hälfte reduziert werden. Bereits im Sommer wurden diverse Gebühren deutlich hinaufgesetzt: Autobahnvignette, Versicherungen, Reisepässe, Ambulanzbesuche, Rezepte. Ebenso die Postgebühren, was zur Eliminierung kleiner Zeitungen aus dem verbilligten Postzeitungsversand führt, da diese den restriktiven Anforderungen nicht mehr gerecht werden können.

Die "soziale Treffsicherheit", von der die Regierung Schüssel spricht, ist als Abschussquote zu verstehen. Aber zweifellos setzt sie Zeichen, ein sozialer Anschlag folgt dem anderen. Den Gegnern bleibt meist wenig Zeit zu reagieren. Bis sie etwas auf die Reihe bringen, ist die übernächste Drohung bereits Gegenstand einer "rasenden" Debatte. "Speed ills" nennt der Klubobmann der christlich-sozialen ÖVP, Andreas Khol, dieses Spiel, bei dem die rechtskonservative Koalition eindeutig das Tempo angibt. Auf jeden Fall versteht sie es ganz ausgezeichnet, ihre Grauslichkeiten zu vermarkten.

Die Medien sind in dieser Frage äußerst freundlich gestimmt. Karl-Heinz Grasser etwa, der junge freiheitliche Finanzminister, ist gerade zum Liebkind der Kommentatoren aufgestiegen. Dreimal Peitsche, einmal Zuckerbrot, scheint eine strategische Leitlinie der neuen Regierung zu sein. Ja, in wenigen Bereichen gibt es sogar einen "Sozialzubau", auch wenn dieser an staatliche Zuchtprämien und Mutterkreuze erinnert. Laut Wolfgang Schüssel muss die Alpenrepublik nämlich "das familienfreundlichste Land Europas" werden. Vor allem kinderreichen Familien werden zusätzliche Leistungen wie der Mehrkinderzuschlag angeboten oder der sogenannte Kinderscheck versprochen. In Zukunft soll es das erhöhte Karenzgeld für alle geben - das sogenannte Kinderbetreuungsgeld, während das erhöhte Karenzgeld für Alleinerzieherinnen schon vor Jahren abgeschafft wurde. Bestimmte Lebensmodelle werden durch finanzielle Anreize gefördert, andere reglementiert. Familienpolitik ist Bevölkerungspolitik. Schlanker Staat und starke Familie haben sich zu ergänzen.

"Eure Armut kotzt uns an ..."

Der Verfall des Sozialen wird auch in Österreich mehr oder weniger fatalistisch hingenommen. Man glaubt, sowieso nichts machen zu können. Gegenwehr verunglückt meist im Anfangsstadium. Nicht das klassische Interesse (weder das unmittelbare noch das reflektierte) ist eine zentrale Kategorie, sondern das Desinteresse. Nichts wirkt heute etwa so fad wie eine Sozialreportage. Im Prinzip sollen jene, die sich nicht auf der Siegerstraße befinden, aus unserem Blickfeld verschwinden. Nicht Solidarität oder zumindest Betroffenheit ist angesagt, sondern in erster Linie Gleichgültigkeit und im schlimmsten Fall Aggression: "Eure Armut kotzt uns an!" Nichts ist in Zeiten allgemeiner Egomanie so verpönt wie Altruismus - Konkurrenz nicht nur als äußerer Zwang, sondern auch als innerer Modus der Subjekte. Die Formatierung der Gehirne scheint weit fortgeschritten. Der marktwirtschaftliche Typus wird seriell hergestellt. Da jeder sich selbst gehört, ist auch jeder für sich selbst zuständig: Ich bin meiner mir mich. Und dann kommt lange nichts. - Der Sozialstaat war eben stets nur Zusatz, nicht Gegensatz zum Markt oder gar Übergang zum Sozialismus, wie der alte Reformismus behauptete.

Obwohl sich unter den beschriebenen Umständen soziale Widersprüche verschärfen, entschärfen sich die Klassenwidersprüche: Die Individuen wechseln vielmehr zwischen verschiedenen losen Rollen, ohne sich immer dezidiert zugehörig zu zeigen. Klassenmerkmale werden Momente unter vielen, aufgehoben in einem Kunterbunt der Zu-, Hin- und Verwendungen. Menschen verstehen und verhalten sich nicht (mehr) in erster Linie als Proletarier oder Bourgeois, Beamter oder Bauer. Auch der "Lohnarbeiter" von heute nimmt unterschiedlichste Rollen in der Gesellschaft wahr. Er ist Sparer, Arbeitsloser, Versicherter, Empfänger staatlicher Gelder, "Pfuscher" (Schwarzarbeiter), Rentner, Selbstständiger. Seine existentiellen Äußerungen sind variabel. Die Klassenanalyse verliert an Relevanz, weil die Klassen an Relevanz verlieren. Sie sind nicht einmal mehr an der Oberfläche der Korpus gesellschaftlicher Entwicklung.

"Ich dachte, ich sei arbeitslos, obwohl ich gearbeitet habe. Heute weiß ich, dass ich selbstständig bin", sagt eine in Deutschland lebende Schwarzafrikanerin, die im informellen Sektor tätig ist. Immer mehr Menschen ergeht es ähnlich. Atypische Beschäftigungsverhältnisse zeugen von einer "Prekarisierung" der Lebensumstände. Wobei das nicht einfach als sozialer Abstieg gesehen werden darf. Es ist vielmehr die Verpflichtung zum permanenten Umstieg. Prekär meint nur, dass im Gegensatz zu früher (wo zumindest in Westeuropa das soziale Netz bis 1980 immer dichter geworden ist) die Entsicherung um sich greift. Objektive Entsicherung bedeutet subjektive Verunsicherung. Flexibilität und Geschwindigkeit sind Imperative, die das Individuum auf die Zerreißprobe stellen. Das Anpassungsvermögen hat sich zu automatisieren. Doch nicht alle halten das durch oder aus. Der aktuell auch in Wien hochgejubelte Rückgang der Arbeitslosigkeit ist überwiegend das Resultat von Frühpensionierungen und Weiterbildung einerseits - andererseits vor allem dem starken Trend zu Teilzeitarbeit und geringfügiger Beschäftigung geschuldet, im Einzelhandel etwa gibt es kaum noch Vollarbeitsplatzbesitzer.

"Wer nicht kann, will nicht ..."

Was nun in Zeiten galoppierender Globalisierung droht, das ist die Zuspitzung des marktwirtschaftlichen "Jeder gegen jeden" - oder im Kollektiv: Wir gegen die! Sozialer Kannibalismus hat Hochsaison. Die Ökonomie der Ausgrenzung produziert ausgrenzende Individuen. Wem nehmen wir etwas weg? - ist deren vorrangige Frage. Dabei inszeniert sich das Leistungsprinzip als unerschütterliche Größe: Wer will, der kann. Und wer nicht kann, will nicht. Ist ein Saboteur. Ein Schmarotzer. Ein Parasit. Wir wollen auf unsere Kosten kommen, aber niemand darf auf unsere Kosten leben. Vom sozialdarwinistischen Affekt zur rassistischen Verachtung ist es nur ein kleiner Schritt. Die Verfolgung sogenannter Interessen der Eigenen ist die Verfolgung der Anderen. Konkurrenzsubjekte verfolgen Konkurrenzsubjekte als Sündenböcke, deren hauptsächliches (wenn auch keineswegs einziges) Kriterium das nationale Kennzeichen darstellt. Rassistische Faustregel: Je weniger ein Ebenbild, desto größer das Feindbild. Jörg Haider hat die soziale Frage bereits in die nationale überführt: "Die ehrliche Alternative für die Finanzierbarkeit der sozialen Sicherheit lautet: Mehr arbeiten, mehr Kinder und weniger ausländische Zuwanderer oder weniger arbeiten, weniger eigene Kinder und mehr Einwanderer." - "Frei kann man nur sein, wenn man Arbeit hat", so Haider beim FPÖ-Sonderparteitag in Linz im Oktober 1998.

Während andere vom Recht auf Arbeit schwärmen, will Haider gleich alle in die Pflicht nehmen. Die Freiheit der Arbeit ist ihm der Zwang (zu) derselben. Dass "alle arbeiten lernen müssen", ist ein geflügeltes freiheitliches Sprichwort, synchronisiert den Dummsprüchen am Stammtisch. Da wie dort wird kurzer Prozess gemacht: Ausländer raus! Sozialschmarotzer zum Arbeitsdienst! In ihrer negativen Variante ist die grassierende Personalisierung stets auf Schuldige - und auf die Jagd ebendieser - fixiert. Aber auch die Gewerkschaften sind alles andere als frei von ausländerfeindlichen Ressentiments. Indem sie ebenfalls zwischen Inländern und Ausländern - aber auch Beschäftigten und Nichtbeschäftigten - so ihre "feinen" Unterschiede machen; arbeiten sie direkt der Haiderei zu. Auch in Sachen EU-Osterweiterung sind diverse FPÖ-Statements mit denen von Gewerkschaftsfunktionären durchaus kompatibel.

Von einem "heißen Herbst" in Österreich, wie ihn die Gewerkschafter angekündigt hatten, war nicht viel zu merken. "Faktum aber ist", sagt ÖGB-Präsident Fritz Vernetnitsch, "dass dieser Druck noch nicht ausreicht, um all das abzuwenden, was uns bevorsteht ..." Doch was da unter oppositioneller Sozialpolitik firmiert, ist zutiefst verunsichert und verteidigt lediglich das Gestern gegen das Heute. Die Attraktivität dieser Politik hält sich in engen Grenzen, denn solange in den kapitalimmanenten Kategorien der Betriebs- und Volkswirtschaftslehre gedacht wird, landet man früher oder später bei irgendeiner Variante der Realpolitik, die wirklich nichts anderes mehr zu veranstalten vermag, als Leistungen aus budgetären Gründen abzubauen. Solange soziale Perspektive in den Kriterien von Markt und Geld, Arbeit und Umverteilung befangen bleibt, gibt es jedenfalls keine wirklichen Alternativen zur sozialen Regression.

Sozialkritik jenseits des Klassenkampfs zu formulieren, ist leichter gesagt als getan. Nichtsdestotrotz notwendig. Der soziale Kampf sollte aus seiner defensiven Haltung (Verteidigt die..., Hände weg von..., Nein zu...) ausbrechen und offensive Strategien entwerfen. Die unbedingte, aber aussichtslose Orientierung auf Arbeitsplätze scheint da wenig sinnvoll.

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