Dreißig Jahre Abwegigkeit

Gescheitert Akteure wie Blackrock profitieren vom Rückbau der öffentlichen Altersvorsorge. Nun stellt eine UN-Studie klar: Die Rentenprivatisierung ist ein weltweites Debakel
Ausgabe 47/2018
Muss sich um teure Besuche beim Optiker im Alter vermutlich schon lange keine Sorgen mehr machen: Friedrich Merz
Muss sich um teure Besuche beim Optiker im Alter vermutlich schon lange keine Sorgen mehr machen: Friedrich Merz

Foto: DeFodi/Imago

Seit rund drei Jahrzehnten wird rund um den Globus unter Hinweis auf die demografische Entwicklung Stimmung gegen öffentliche umlagefinanzierte Rentensysteme und für mehr private und betriebliche kapitalgedeckte Vorsorge gemacht. Neben der Finanzindustrie spielt dabei die Weltbank eine zentrale Rolle.

Aber auch die OECD und die EU-Kommission lassen kaum eine Möglichkeit aus, um – angesichts der absehbaren Bevölkerungsalterung und der daher angeblich drohenden Unfinanzierbarkeit öffentlicher Rentensysteme – Reformen in diese Richtung und zu Gunsten von Akteuren wie Blackrock zu pushen (der Freitag 28/2018). Nicht mehr die Sicherstellung angemessener Alterseinkommen, sondern die möglichst weitgehende Beschränkung oder gar Senkung der öffentlichen Rentenausgaben wurde zur zentralen Zielsetzung – trotz des erwarteten massiven Anstiegs der Zahl der (dann) Älteren. Umgedeutet wird das dann als „finanzielle Nachhaltigkeit“.

Durch das Zurückdrängen der öffentlichen Systeme zugunsten privater „Kapitaldeckung“ ist für die Nachhaltigkeit nichts zu gewinnen. Übrig bleibt eine Verlagerung der Kosten und Risiken auf die Individuen. Kapitalgedeckte Systeme erscheinen nur bei oberflächlicher Betrachtung resistenter gegenüber demografischen Verschiebungen. Bei näherer Betrachtung weisen öffentliche umlagefinanzierte Systeme – nicht zuletzt vor dem Hintergrund der deutlichen Alterung – sogar wesentliche Vorteile auf.

Die Überbewertung der Bedeutung der demografischen Entwicklung und der Glaube, durch Kapitaldeckung auf der Makroebene für die Alterung vorsorgen zu können, verstellt letztlich den Blick auf sinnvolle Lösungsstrategien. Tatsächlich sagen die Altersstruktur und das zahlenmäßige Verhältnis von Älteren zu Personen im erwerbsfähigen Alter alleine relativ wenig über den in einer Gesellschaft bestehenden Transferbedarf aus. Maßgeblich ist vielmehr die Relation zwischen Transferabhängigen und Erwerbstätigen – die ökonomische Abhängigkeitsquote –, und diese wird ganz entscheidend vom Ausmaß der Erwerbsintegration und der Arbeitsmarktentwicklung mitbestimmt.

Gefördert wird Ungleichheit

Eine Gesamtstrategie, die auf eine deutlich verbesserte Erwerbsintegration in allen Erwerbsaltersgruppen unter fairen Bedingungen abzielt, stellt sozialpolitisch und ökonomisch betrachtet die bei Weitem beste Strategie für eine sinnvolle Bewältigung der demografischen Herausforderungen dar. Die bloße Umstellung der Finanzierungsstruktur von Rentensystemen leistet hierfür keinen Beitrag.

Der Rentenprivatisierung standen nicht zuletzt ExpertInnen der Internationalen Arbeitsorganisation der Vereinten Nationen, der ILO, von Anfang an äußerst kritisch gegenüber. Ausgehend von in ILO-Standards und UN-Deklarationen festgeschriebenen originären Zielen von Alterssicherungssystemen und den für deren Ausgestaltung vereinbarten Prinzipien wurde eindringlich vor den Gefahren für die Betroffenen gewarnt. Jetzt hat die ILO einen ausführlichen, Fallstudien von 15 Ländern umfassenden Bericht veröffentlicht (Reversing Pension Privatizations. Rebuilding public pension systems in Eastern Europe and Latin America), der die bisherigen Entwicklungen eingehend analysiert. Die Bilanz der Privatisierung von Rentensystemen fällt vernichtend aus: Die Rentenhöhen verfielen, teilweise dramatisch. Die reduzierten Leistungsniveaus verfehlen in aller Regel die ILO-Mindeststandards deutlich und führten zu steigender Altersarmut. Niedrige Rentenhöhen waren nicht zuletzt die Folge der sehr hohen von den gewinnorientierten Pensionsfonds und Versicherungen in Rechnung gestellten Kosten. Anders als oft behauptet führte der vermeintliche Wettbewerb zwischen den Anbietern wenig überraschend nicht zu einer Dämpfung der Kosten, sondern zumeist zu exorbitanten Anstiegen. In allen untersuchten Ländern kam es zu deutlichen Marktkonzentrationen, oft mit einer Dominanz großer ausländischer Finanzinstitute. Demgegenüber stagnierten die Abdeckungsraten beziehungsweise waren sogar überwiegend rückläufig und die Geschlechter- und Einkommensungleichheit stiegen.

Als zentrales Ergebnis der Rentenprivatisierung steht die Verlagerung systemischer Risiken der demografischen und ökonomischen Entwicklung von der kollektiven auf die individuelle Ebene. Anlage- und Inflationsrisiko schlagen voll auf die Rentenhöhen durch. Die einseitige Zuordnung des Anlagerisikos und die hohe Volatilität der Finanzmärkte gehen mit steigender Unsicherheit künftiger Rentenhöhen einher. In diesem Rahmen schlagen Finanzmarktkrisen voll auf die Rentenhöhen durch. Entsprechend katastrophal waren die Auswirkungen der Finanzkrise 2008 für die Betroffenen.

Dazu kommt, dass die erheblich unterschätzten Übergangskosten zu beträchtlichen budgetären Belastungen führten. Während vermeintliche Entlastungseffekte als ein zentrales Argument für Rentenprivatisierungen angeführt wurden, sahen sich viele Staaten mit kaum tragbaren Zusatzkosten konfrontiert. Die zur Finanzierung begebenen Staatsanleihen fanden sich dann zu einem Gutteil in den Portfolios der Pensionsfonds wieder, womit sich ein kostspieliger Kreis schloss, von dem letztlich nur die Finanzbranche profitiert.

Während die Auswirkungen der Rentenprivatisierungen für die Versicherten vielfach katastrophal waren, profitierte der Finanzsektor durch hohe Gebühren und einen weiteren ökonomischen Machtausbau erheblich. Angesichts der Evidenz an negativen sozialen und ökonomischen Auswirkungen und des Umstands, dass 60 Prozent der 30 Länder, die ihre Rentensysteme weitgehend oder vollständig privatisiert haben, mittlerweile wieder eine Umkehrung dieses Irrweges eingeleitet haben, kann dieses Experiment nur als gescheitert bezeichnet werden.

Erik Türk ist Rentenexperte in der Kammer für Arbeiter und Angestellte (AK-Wien), Josef Wöss leitet dort die Abteilung Sozialpolitik

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