Du bist nun seine Frau

Unterdrückung Zwangsheirat und Gewalt gegen Frauen sind in Indien oft trauriger Alltag. Hier erzählt eine Inderin von ihrem Schicksal
Ausgabe 50/2015

Ich hatte Angst. Angst, Akhtar zu treffen. Einen Mann, dem ich noch nie begegnet war und mit dem ich den Rest meines Lebens verbringen sollte. Dabei war ich gerade mal elf Jahre alt und sollte einen wildfremden Mann heiraten. Ich konnte nicht schlafen, weil ich nicht wusste, was mich erwarten würde. Ich schloss die Augen. Meine Lider waren schwer, weil ich noch so müde war. Aber mein Herz schlug schnell. Mir wurde heiß. Ich fragte mich: Was ist das für ein Mann? Wird er mich mögen? Wird er mich mit einem Lathi schlagen? Mit dem langen, dünnen Schlagstock aus Bambus?

Noch bevor die Sonne aufging, lief ich zum Brunnen, um Wasser für den ganzen Tag zu holen. Auf der Wasseroberfläche spiegelte sich das Mondlicht. Das kühle Wasser war angenehm erfrischend, als ich den Eimer darin eintauchte und dadurch das Spiegelbild des Monds zerstörte. Danach setzte ich den Eimer auf den Kopf und balancierte ihn zurück zum Haus. Obwohl die Sonne noch nicht aufgegangen war, spürte ich, wie warm der Tag werden würde. Sand und Staub wehten durch die Luft, legten sich auf alles, auch auf meine Haut.

Mach dich schön!

Ich musste mit dem Eimer mehrmals zum Brunnen und wieder zurück gehen, bis ich genügend Wasser geholt hatte. Dann fegte ich das Haus und setzte Chai auf. Den Schwarztee trinkt man in ganz Indien. Meist wird er mit einem Schuss Milch und viel Zucker in einem Topf aufgekocht. Dazu kommen je nach Region verschiedene Gewürze wie Kardamom, Zimt, Ingwer, Nelken, Muskat oder Lorbeerblätter. Ich nahm nur etwas Ingwer und Zimt für den Chai und brühte ihn mit wenig Zucker, dafür umso mehr Milch, auf. Dann brachte ich ihn der Frau, für die ich seit zwei Jahren arbeitete.

Weil sie so fett war und ich sie verabscheute, nannte ich sie Moti – auf Hindi ist das die umgangssprachliche und abschätzige Bezeichnung für dicke Frauen. Noch bevor Moti den ersten Schluck getrunken hatte, brüllte sie mich an: „Wie siehst du wieder aus? Völlig eingestaubt! Wasch dich und mach dich schön! Heute ist ein sehr wichtiger Tag!“

Info

Dieser Text ist ein Vorabdruck aus Mit dem Herzen einer Tigerin (Heyne, 256 S., 9,90 €). Das Buch erscheint am 14. Dezember und erzählt die wahre Geschichte von Amila, die Freitag-Autorin Katharina Finke aufgeschrieben hat

Ich nahm das verdreckte Küchentuch und wischte mir den Staub von der Haut. Dann ging ich zum Wassereimer und hockte mich davor, um mir Gesicht und Haare zu waschen. Ohne Seife, denn die war nur für Moti vorgesehen. Anschließend ging ich ins Haus und zog das schönste Salwar Kameez an, das ich hatte. Es ist die traditionelle Kleidung eines Teils der Inderinnen und besteht aus einem Kameez, einem längeren Hemd, das locker über eine Salwar, eine weite Hose, getragen wird, und einem Schal, der Dupatta. Mein Kameez war hellorange mit großen weißen Blumen. Sie ähnelten den Orchideen, die in meiner Heimat Assam wachsen. Und den Farben von Tigern, die es dort gibt. Nur eben nicht wild gestreift, sondern mit Blüten. Dieses Salwar Kameez werde ich nie vergessen. Heute würde es mir nicht mehr passen. Doch damals war ich viel dünner. Aber nicht schlank und hübsch, sondern abgemagert und schwach.

Wenige Tage zuvor war ein alter Herr gekommen, um mit Moti und ihrem Mann zu sprechen. Er wollte mich mit seinem Sohn Akthar verheiraten, wie mir Moti später erzählte. Heute war der Tag, an dem ich diesem wildfremden Mann, dessen Frau ich werden sollte, zum ersten Mal begegnen würde. Ich betete an diesem Morgen ausgiebig. Wird er mich mögen, überlegte ich, oder wird er mich so schlecht behandeln, wie Moti es getan hatte. All die Gedanken meiner schlaflflosen Nacht kreisten wieder in meinem Kopf. Moti und ihr Mann brachten mich mit dem Sammeltaxi in ein fremdes Dorf, etwa vierzig Minuten von der Stadt entfernt. Sie lieferten mich bei meinem zukünftigen Mann und seiner Familie ab. Moti sagte bloß: „Sie heißt Amila.“ Dann verabschiedeten sie und ihr Mann sich von der Familie – aber nicht von mir – und fuhren einfach weg.

Es war komisch. Abdul, der bei Moti zu Besuch gewesen war, zeigte auf den Mann neben sich. Dieser war zwar jünger als er, aber vermutlich doppelt so alt wie ich und bestimmt zwei Köpfe größer als ich. „Das ist mein Sohn Akthar“, sagte er. „Du bist nun seine Frau.“ Akthar musterte mich ausgiebig, sagte aber kein Wort. Ich auch nicht. Aber ich schaute ihn an. Er sah seltsam aus. Sein dunkles, unreines und vernarbtes Gesicht mit den schwarzen Dreitagebartstoppeln und der großen Knubbelnase war nicht schön anzusehen. Vor seinen Augen lag ein Schleier, der das helle Blau seiner Iris und seinen Augapfel trübte. Trotzdem durchschoss mich der Blick aus seinen Pupillen wie ein Blitzstrahl. Das löste Unbehagen bei mir aus, weshalb ich meinen Blick von seinen Augen abwandte. Er zündete sich eine Zigarette an und steckte sie sich in den Mund. Dabei kamen seine vergilbten und spitzen Zähne zum Vorschein. Ich senkte die Lider und bemerkte aus dem Augenwinkel mit verstohlenem Blick die vielen schwarzen Haare, die wild aus seinem oben aufgeknöpften Hemd sprossen, dann wandte ich meinen Kopf ab. Aber in meinem Inneren brodelte es. Noch heftiger als am Morgen, als ich wachgelegen hatte.

„Du bist seine Frau!“ – der Satz hallte wie ein Echo in meinem Kopf. Es tat weh und fühlte sich an, als ob die Worte immer wieder kräftig gegen meine Schädeldecke geschlagen würden. „Du bist seine Frau!“ Du bist seine Frau! Du bist seine Frau!« – wie ein Mantra wiederholte ich die Worte lautlos für mich selbst. Ich hatte Angst. Es sollte einfach nur aufhören. Tat es aber nicht. Ich wusste nicht, wie mir geschah, wo ich genau war und wer dieser Akthar, mein Mann, eigentlich sein sollte.

Goldener Nasenstecker

Plötzlich kam ein anderer Mann auf mich zu und rammte mir einen kleinen goldenen Stecker in einen Nasenflügel. Es gelang ihm nicht auf Anhieb, und so begann Blut auf mein Lieblings-Kameez zu tropfen.

Doch der Fremde bohrte weiter, bis die goldene Verzierung fest in der Haut verankert war, und sagte: „Das ist das Zeichen für euer Bündnis.“ Dann rief Akthar: „Muhdak Karo!“ (Bedecke dein Gesicht!) und zog mir den Schal übers Gesicht, wodurch er meinen fragenden Blick verbarg, denn ich verstand nicht, was das sollte. Aber die Männer schienen zufriedengestellt zu sein und ließen mich mit der einzigen Frau, die außer mir in der Hütte stand, alleine.

„Keine Angst“, sagte sie, „ich bin Kamla, deine Schwiegermutter.“ Wir setzten uns auf den Boden und sie erklärte mir, dass Mädchen, sobald sie verheiratet und damit zu Frauen werden, solch ein Nasenornament bekommen, das sie bis an ihr Lebensende tragen müssen. Zum Glück mochte ich Schmuck. Zudem müssen verheiratete Frauen ihr Gesicht komplett bedecken, damit kein anderer Mann außer ihrem Ehemann es sehen kann. Dann zeigte sie mir die verschiedenen Methoden, den Schleier zu binden (Ghunghat Karna). Entweder komplett über den Kopf, wenn das Tuch so dünn ist, dass man hindurchsehen kann. Oder man stülpt den Schleier über die Stirn, legt den längeren Teil über Nase und Wangen und bindet ihn hinter dem Kopf zusammen, sodass nur die Augen herausgucken. Heute ist das alles selbstverständlich für mich, aber damals musste ich es erst lernen. Gemeinsam probierten wir verschiedene Bindungen aus, und es kam mir fast vor wie ein Spiel. Aber irgendwie war es auch bizarr und ungewohnt.

Das Wort Ghunghat hatte ich zuvor noch nie gehört. In meiner Heimat Assam nennen wir den Schleier Dupatta, der ganz locker gebunden und manchmal wie ein Schal getragen wird. Doch hier in Alwar, mehrere tausend Kilometer entfernt von meiner Heimat, wo ich damals seit knapp zwei Jahren lebte, „sind viele Dinge ganz anders“, wie Kamla es ausdrückte.

Alwar ist der Name einer Region und ihrer Hauptstadt in Rajasthan, einem Bundesstaat im Nordwesten Indiens. Assam, mein Heimatstaat, befindet sich im Nordosten des Landes, oberhalb von Bangladesch. Es ist das Gebiet ganz rechts oben auf der Landkarte von Indien, das so aussieht, als ob es gar nicht mehr dazugehöre. Und genauso fühlte ich mich auch. Wie eine Außenseiterin. Alles in Alwar sah anders aus als in Assam und war mir fremd. Die Erde war trocken, ebenso die Luft. (...)Während Männer und Vieh untätig der Hitze trotzen, wuseln die Frauen immerzu umher. Auf den Köpfen tragen sie in großen Bündeln Feuerholz oder Heu von den umliegenden Feldern. Fast jede hat noch ein Kind auf dem Arm oder an der Hand. Sobald die Kleinsten sicher laufen können, helfen sie ihren Müttern bei der täglichen Arbeit. Bei einigen Frauen spannt das Kameez am Bauch, weil sie schon wieder schwanger sind. Kinder gebären, sich um die Großfamilie und den Haushalt kümmern, das sind die Aufgaben der Frauen in Alwar. Dabei sollen sie möglichst nur dann das Haus verlassen, wenn sie auf dem Feld arbeiten oder Feuerholz heimtragen.

Und draußen müssen sie sich verschleiern. Sonst fangen die Leute an zu reden und die Frau bekommt Ärger zu Hause, erklärte mir Kamla. Denn eine verheiratete Frau ohne Ghunghat und Nasenstecker ist eine schlechte Frau. Einfluss darauf, wen sie heiratet, hat sie genauso wenig wie der Mann. Darüber entscheiden die Eltern. „Bei uns in Alwar muss die Frau der Ehe nicht zustimmen“, belehrte mich Kamla. Es reiche, wenn der Mann bei der Hochzeit das Eheversprechen abgibt und zwei männliche Zeugen dabei sind.

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