Für Fatih ist der Multikulti-Entertainer Kaya Yanar ein "Verräter". In seiner Comedy-Show "Was guckst du?!" mache er sich regelmäßig über die hier lebenden Türken lustig, wenn er beispielsweise den Disko-Türsteher Hakan mimt. Dabei sei er doch selbst ein Türke, meint der 18-jährige Fatih über seinen erfolgreichen Landsmann. Der ironische Blick des Fernsehmoderators auf Goldketten tragende Machos der dritten Immigrantengeneration ist ihm völlig fremd. Fatih geht selten in die Disko, hat zur Zeit keine Freundin und trägt keine Marken-Kleidung. Das kostet alles Geld, erklärt er lapidar. Als er vor zwei Jahren die Schule verließ, dachte Fatih, endlich Geld zu verdienen. Geklappt hat das allerdings bisher nicht. Seine Chancen
cen auf dem Berliner Ausbildungs- und Arbeitsmarkt sind sehr gering. Fatih hat es nur bis zur 7. Hauptschulklasse geschafft. Er gehört zu jenen 25,9 Prozent ausländischen Schulabgängern in Berlin ohne Abschluss.Die Bildungssituation von Jugendlichen ausländischer Herkunft hat sich verschlechtert - und das nicht erst seit der Pisa-Studie. Migrationsforscher beobachten seit längerem, dass der Anteil ausländischer Schüler an Realschulen und Gymnasien - verglichen mit dem vorherrschenden Trend zu höheren Abschlüssen in den achtziger Jahren - stagniert. Nur jeder zehnte von ihnen erreicht die Hochschulreife, aber jeder vierte Deutsche macht Abitur. Zwei Drittel der deutschen Schulabgänger erzielen einen mittleren oder höheren Abschluss, bei den Ausländern ist es nur ein Drittel. Für die meisten bleibt die Hauptschule der einzige Bildungsweg. Eine Sackgasse, denn selbst hier erzielen 32 Prozent keinen Abschluss.Solche Aussonderungsprozesse wirken sich später auf die berufliche Qualifizierung aus. Bei türkischen Jugendlichen beträgt die Ungelerntenquote 40 Prozent. Und während die Zahl der deutschen Auszubildenden steigt, sinkt die der Ausländer. Laut einem Bericht der Bundesausländerbeauftragten war 1998 die Ausbildungsbeteiligung ausländischer Jugendlicher mit rund 38 Prozent innerhalb von vier Jahren auf den Stand von 1990 zurückgefallen. In Berlin haben gar nur 5,4 Prozent der jungen Ausländer einen Ausbildungsplatz bekommen."Warum sollte ich mich bewerben, ich habe ja eh keinen Abschluss", sagt Abdul. Seine Freunde nennen ihn Apo. Der schlaksige junge Araber mit dem lockigen Haar springt fortwährend vom Stuhl auf. Er müsse sich immer bewegen, das sei in der Schule auch so gewesen. Die Lehrer bescheinigten ihm Konzentrationsschwierigkeiten beim Lernen. Hinzu kamen die langen Fehlzeiten. 127 Unterrichtsstunden schwänzte Apo im letzten Schuljahr, zweimal musste er die 9. Klasse wiederholen. "Klar, die Eltern haben Stress gemacht", erzählt Apo, "aber irgendwann haben sie nachgegeben." Die Schule sei ihm damals nicht wichtig gewesen, stattdessen hing er lieber mit Kumpels wie Fatih zusammen. Mit ihnen trifft er sich auch heute noch. Zum Karten und Billard spielen.Das Jugendzentrum in der Reinickendorfer Straße ist ihnen so etwas wie ein zweites Zuhause. "Wir sind die ersten, die hier jeden Nachmittag auftauchen", sagt Apo stellvertretend für seine Freunde. Im Wedding zählen Freunde neben der Familie zu den wichtigsten Bezugspersonen. Die falschen Freunde führen zu Scherereien mit der Polizei, weiß Apo zu berichten. Seine Clique besteht aus Türken der zweiten und dritten Einwanderergeneration. Die Frage nach dem Elternhaus beantworten sie mit einem Standardsatz: Vater Arbeiter, Mutter Hausfrau. Manche Väter sind seit einiger Zeit arbeitslos.Viele Berliner Betriebe mussten nach der Wende schließen oder einen Teil ihrer Belegschaft entlassen. Davon sind insbesondere die Berliner Türken betroffen. 43 Prozent von ihnen sind derzeit ohne Beschäftigung, bei den Jüngeren sind es sogar 56 Prozent. Da sie meistens keine Berufsausbildung haben und über schlechte Deutschkenntnisse verfügen, sind sie besonders schwer zu vermitteln. In Zeiten der Rezession ist der Wettbewerb auf dem Arbeitsmarkt gnadenlos. Gefragt sind ausschließlich Facharbeiter, qualifizierte Angestellte und Hochschulabsolventen. Der Bedarf an ungelerntem Personal geht zurück. Jetzt rächt es sich, dass Deutschland Millionen von Arbeitskräften ins Land holte, ohne ihnen gleichzeitig Aufstiegschancen zu bieten. Zahlreiche Beispiele von erfolgreichen ausländischen Unternehmern gibt es allerdings auch.Trotzdem, die 47 Jahre Einwanderung sind nicht unbedingt eine Erfolgsstory. Sowohl die Deutschen als auch die Migranten waren der irrigen Meinung, dass ihr Aufenthalt hier im Land von kurzer Dauer sein würde. Warum sollten sie sich integrieren, wenn sie bald in ihre Heimat zurückkehren würden? Doch sie blieben. Und ihre Kinder bezahlen heute die Zeche. Sie werden eingeschult, ohne richtig Deutsch sprechen zu können. Und weil sie in Stadtteilen wie Neukölln, Kreuzberg oder Wedding leben, kommen sie in Grundschulklassen, in denen deutsche Schüler kaum anzutreffen sind."Vor zehn Jahren bestand die Hälfte unserer Schüler noch aus Deutschen. Heute haben wir einen Ausländeranteil von etwa 95 Prozent", sagt Joachim Klein, Konrektor der Eberhard-Klein-Oberschule in Kreuzberg. Bildungsbewusste Eltern würden ihre Kinder nicht auf die integrierte Haupt- und Realschule im berüchtigten Wrangeldreieck schicken. Die Politiker haben die Gettobildung zugelassen und die Lehrer stünden nun auf verlorenem Posten, meint der Pädagoge resigniert. Fast alle seine Schüler brauchen Förderunterricht. Zum regulären vierstündigen Deutschunterricht kommen wöchentlich zwei Stunden "Deutsch als Zielsprache" (DAZ) hinzu. Mag sein, dass sechs Stunden für die Sprachdefizite der Schüler nicht ausreichend seien, gibt Klein zu, aber man könne sich auch zu Tode "dazzen". Die Förderkurse nützen wenig, wenn die Kinder zu Hause und sobald sie unter sich sind, immer nur Türkisch sprechen.Sadettin Birkan und Musa Özdemir unterrichten an der Eberhard-Klein-Schule neben den üblichen Fächern Türkisch als Wahlpflichtfach. Ein Viertel der Schüler nimmt das Angebot an. Von bilingualer Sprachkompetenz könne da gar nicht die Rede sein. Leider seien viele ihrer türkischen Schüler in beiden Sprachen Analphabeten, geben die beiden zu. Musa Özdemir ist Vertrauenslehrer und sitzt für die PDS in der Bezirksverordneten-Versammlung von Kreuzberg-Friedrichshain. Er und viele seiner Kollegen sind der Meinung, dass man die Kreuzberger Schulen mit denen von Friedrichshain vermischen sollte. Nur so könne man der fortschreitenden Gettobildung gegensteuern. Außerdem müssen kleinere Klassen gebildet werden und die Kinder mehr Deutschunterricht bekommen."Wedding ist wie ein Gefängnis. Du kommst hier nicht raus", sagt Apo abgeklärt. Einen Versuch will er dennoch starten. Er hat vor kurzem einen einjährigen Lehrgang begonnen und wird, wenn alles gut geht, seinen Hauptschulabschluss nachmachen. Danach hofft er, durch eine überbetriebliche Ausbildung Maler oder Elektriker zu werden. Zunächst müsse er jedoch 16 schriftliche Hausarbeiten abliefern, um sein Zeugnis zu bekommen, erklärt Apo und rollt dabei mit den Augen. Auch Fatih wird demnächst eine Fördermaßnahme beginnen. Außerdem hat er die deutsche Staatangehörigkeit beantragt. Deutsche Freunde habe er zwar nicht, aber mit einem deutschen Pass wird man ihn besser behandeln, glaubt Fatih.Dass die berufliche Qualifizierung von Jugendlichen mit Migrationshintergrund eine wichtige Voraussetzung für deren Integration ist, darüber sind sich deutsche Politiker und die Interessensverbände der Migranten einig. Doch die von den Arbeitsämtern angebotenen Fördermaßnahmen brachten bisher wenig Erfolg, weil nur wenige Teilnehmer im Anschluss eine Arbeit finden. Das hehre Ziel der Bildungs- und Arbeitspolitik "Ausbildung für alle" allein reicht eben nicht aus. Der Türkische Bund Berlin-Brandenburg (TBB) sieht Handlungsbedarf und hat verschiedene Modellprojekte gestartet. Sie werden von der Bundesregierung finanziert. Die Palette reicht von Beratungsstellen zur Berufsorientierung über Fortbildungsmaßnahmen bis hin zum Bewerbungstraining. Zusätzlich will der TBB die etwa 5000 türkischen Unternehmer in Berlin stärker in die Ausbildungspflicht nehmen. Doch selbst wenn alle diese Betriebe die Voraussetzungen hierfür erfüllen würden, bliebe diese Initiative angesichts der prekären Lage von Jugendlichen wie Fatih und Apo ein Tropfen auf dem heißen Stein.
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