Es ist wie bei einer großen Welle. Du steht am Strand, die Füße im Sand und siehst wie das Wasser zurück weicht, weiter und immer weiter. Du ahnst Schlimmes. Stehst da und wartest, bis sich irgendwann der Horizont hebt und du weißt: Das ist sie
Um halb 8 im Besprechungsraum ist fast alles wie immer. Chefarzt, Oberärzte und Assistenzärzte, alle an einem langen Tisch. Sicher über ein Dutzend. Doch dieses Mal stehen beide Türen des fensterlosen Raumes offen. Die Klimaanlage im ganzen Krankenhaus ist aus: Infektionsschutz. Es wird das letzte Mal sein, dass so viele Menschen an einem Tisch sitzen. Ein „wie immer“ wird es danach nicht mehr geben.
Wir sind Covid-19-Anlaufstelle Nr. 1
An dem Morgen erfahren wir, dass unser Krankenhaus ab jetzt Anlaufstelle Nummer Eins für Covid-19 Patienten in der Region sein wird. Zu uns auf die Intensivstation kommen dann alle mit schwerem Verlauf, also Patienten, die intubiert und beatmet werden müssen. Normalerweise hat bei diesen Sitzungen irgendwer immer einen Spruch auf Lager, macht Späßchen. Jetzt aber redet keiner mehr. Ich schaue in die Runde und sehe überall den gleichen Gedanken: Ok, die Scheiße ist bei uns angekommen.
In Deutschland liegt die Zahl der bestätigten Corona-Fälle noch unter 1.000. Hat sich zum Vortag aber fast verdoppelt. Der vierte Todesfall wird bestätigt. Angela Merkel sagt, flächendeckende Schließungen von Schulen und dergleichen soll es zunächst nicht geben. Trotzdem sei die Pandemie eine Herausforderung, auf die weder Medizin noch Wissenschaft eine Antwort hätten.
Nach Feierabend sitze ich mit Freunden bei einem befreundeten Italiener im Restaurant. Eigentlich erzähle ich sonst kaum von meiner Arbeit. Aber als eine der Bediensteten nebenher belustigt anmerkt, ihre Schwester sei Corona-positiv getestet worden, drehe ich mich zum Inhaber um und frage ob das sein Ernst sei. Sie muss in Quarantäne! Meine Freunde am Tisch lachen und meinen, ich solle mich nicht so haben. Das sei doch alles nur Panikmache. Ich kann nicht fassen, wie Krankenhaus und das hier parallel stattfinden können. Meine Freunde begreifen nichts.
Alles nicht Notwendige auf unbestimmte Zeit verschoben
Am nächsten oder übernächsten Tag – die letzten Wochen verschwimmen in meiner Erinnerung – heißt es im fensterlosen Raum dann, dass wir alle nicht notwendigen Operationen auf unbestimmte Zeit verschieben müssen. Bis wann, weiß niemand. Normalerweise machen wir bis zu sechs schwierige Operationen am Tag. Jetzt sind es nur noch zwei bis drei, die aber müssen sein. Auch Patienten, die nicht unbedingt bei uns liegen müssen, verlegen wir auf andere Stationen.
Es wird ein Zimmer für Covid-19-Fälle eingerichtet. Wir bekommen Anweisungen, wie wir uns dort zu verhalten haben. Wie wir uns schützen: Zweifache Handschuhe, zweifacher Kittel, Maske, Kopfschutz und Schuhüberzug. Zeitgleich wird der Notfallplan, den es in jedem Krankenhaus für den Ernstfall gibt, immer wieder überarbeitet. Einen für Pandemie hatte ich vorher nie gesehen, nur für Großbrände und eine Nuklearkatastrophe.
Gerüchte beginnen durch die Flure zu wehen. Es heißt, dieser oder jener Patient würde bald aus der Infektionsstation zu uns auf die Intensiv verlegt werden. Aus Italien und China kommen Gerüchte, dieses HIV-Medikament oder jenes Malaria-Medikament könnte als Off-Label Therapie funktionieren. Laufend gibt es neue Anekdoten, Studien, Empfehlungen. Dabei ist uns allen klar, dass wir so gut wie gar nichts wissen.
Die Welle am Horizont ist dunkel. Was sie trägt, weiß niemand so genau. Wie groß sie sein wird, kann auch keiner sagen.
Am Wochenende ist es dann so weit. Genau wie bei Kindern, die immer zu fiebern beginnen, wenn um 2 Uhr nachts längst keine Apotheke mehr offen hat. Unser erster Covid-19-Fall kommt an einem Sonntag. Ich sehe ihn bei der Visite, da ist er schon intubiert worden. Alles läuft nach Plan. Der Patient liegt in dem dafür vorgesehen Einzelzimmer. Schleusen, also doppelte Türen, gibt es bei uns allerdings nicht. In den wenigsten Krankenhäusern sind die serienmäßig überall eingebaut. Bei uns ist das Beatmungsgerät sozusagen die zweite Tür.
Wir tragen zwei Schutzkittel übereinander, zwei Handschuhe
Doch schon bei diesem einen Patienten zeigt sich, wie vertrackt alles doch ist. Kompliziert und ethisch heikel. Zwei Pfleger gehen zwei Mal pro Schicht rein. Wir Ärzte auch. Mit zwei Schutzkitteln, doppelten Handschuhen, Mund-, Kopf- und Schuhschutz. Am Anfang tragen wir wasserdichte OP-Kittel, doch weil uns die dann drohen auszugehen, steigen wir wieder um auf normale Kittel. Beim Mundschutz ist es das Gleiche. Mal heißt es, jeder im Krankenhaus müsse Mundschutz tragen. Dann sehe ich plötzlich eine Krankenschwester in einer FFP-2 Maske – also einer über Nase und Mund mit Ventil – einen reguläre Patienten behandeln und werde wütend. Wenn das so weiter geht, fehlen die uns bald für die dafür vorgesehenen Covid-19-Fälle. Danach heißt es, Mundschutz nur noch auf der Intensivstation.
Das ganze Anziehen und Einpacken, bevor wir das Zimmer betreten, dauert gut zehn Minuten. Wer schnell und routiniert ist, schafft es vielleicht in fünf. So oder so stellt uns das vor ein viel größeres, moralisches Problem. Normalerweise gehen wir immer wieder zu den Patienten, schauen nach, wie es ihnen geht. Doch ein „Normalerweise“ gibt es nicht mehr. Jetzt betritt keiner mehr als irgend nötig das Patientenzimmer. Zwei Mal pro Schicht. Ansonsten sind Covid-19-Patienten allein. Auch wenn sie einen Herzinfarkt haben sollten oder irgendetwas anderes, ganz egal – einfach reinrennen und reanimieren geht nicht mehr.
Aus Italien berichtet ein Arzt im Podcast, dass die gnadenlose Einsamkeit das schlimmste sei. Corona-Patienten sterben alleine. Zwei Mal. Einmal alleine im Krankenhaus, das zweite Mal auf dem Friedhof ohne Angehörige.
Am Tag, nachdem der erste Covid-19-Fall zu uns kommt, telefoniere ich lange mit den Angehörigen der Patienten unserer Station. Ich versuche ihnen zu erklären, dass sie nicht mehr zu Besuch kommen dürfen. Dass sie nicht dabei sein dürfen, wenn ihre Ehefrau, die so alt ist wie mein eigenes Kind, aus dem Koma aufwacht. Dass sie die Hand ihres Mannes nicht mehr halten dürfen, bevor er operiert wird. Manche flehen, viele sind verständnisvoll, einige wütend. Währenddessen testen wir unsere Covid-19-Fälle immer wieder aufs Neue. Ab wann sind sie nicht mehr ansteckend? Immer wieder ist der Test positiv. Fast zwei Wochen geht das schon so.
Um das Krankenhaus wird ein Schutzschild hochgezogen. Zu uns auf die Station dürfen gar keine Besucher mehr, dafür kommen wir jetzt nur noch mit Ausweis rein. Auch alle Nebeneingänge werden dicht gemacht. Sicherheitspersonal bewacht den Zugang. Doch nicht nur Ausweise kontrollieren sie. Sie schauen von jetzt an auch in unseren Taschen nach.
Es hat sich eine allgemeine Hysterie Bahn gebrochen. Plötzlich entwenden unsere eigenen Angestellten Masken und Schutzanzüge. Reguläre Patienten werden mit Schwimmbrillen auf behandelt. Und eine Kollegin trinkt nur noch ihr eigenes Wasser aus der Flasche, während sich alle unablässig die Hände desinfizieren.
Wasserstandsmeldung: 4 Covid-19 Fälle an Beatmungsgeräten, 0 Tote. Was die Welle noch bringt, weiß keiner. Aber fast alle haben Angst vor ihr.
Teil 2 dieses Corona-Tagebuchs aus der Intensivstation finden Sie hier
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