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Unglaubwürdigkeit und Doppelmoral sind Vorwürfe, die man durchaus erheben kann, wenn Klima-Aktivisten nach Bali in den Urlaub fliegen. Vorausgesetzt, man lässt sich die Empörungsanlässe von der Bild-Zeitung vorgeben und – schlimmer – blendet Tatsachen aus. Etwa, dass die betreffenden Aktivisten nicht auf Bali, sondern in Thailand sind. Bei der Teilnahme an von der Springerpresse ausgelösten Debatten gehört es zu den bekannten Risiken und Nebenwirkungen, hinterher festzustellen, dass man sich an einer Luftnummer aufgehängt hat. Nun, packen wir’s an.
Doppelmoral setzt voraus, dass überhaupt ein moralisches Urteil besteht, zu dem man sich konträr verhalten kann. Jemand muss touristischen Flugverkehr in jedem einzelnen Fall
ehr in jedem einzelnen Fall verurteilen, um sich der Doppelmoral schuldig zu machen, wenn er doch fliegt. Bei Luisa S. und Yannick S., wie die beiden Aktivisten heißen sollen, weiß man darüber: nichts.Die „Letzte Generation“ ist Teil einer Klimabewegung, die aus guten Gründen kontrovers diskutiert, wer eigentlich ihr Adressat ist. Es sind Fragen, bei denen sich ideologische und methodische Gräben auftun. Liegt die Lösung im Beitrag des berühmten „Einzelnen“ oder lässt sich die Krise nur durch ein alternatives Wirtschaftssystem lösen? Wie politisch ist Konsum und wo beginnt die unzulässige Individualisierung systemischer Probleme? Verschiedene kluge Menschen haben dazu verschiedene kluge Positionen. Im Axel-Springer-Haus sitzt keiner von ihnen. Dort informiert man den Leser lediglich über die Mitgliedschaft der Aktivisten bei der „Letzten Generation“ und verlässt sich darauf, dass er ihnen schon die richtige, also unglaubwürdige Haltung überstülpen wird.Dabei hätten Luisa S. und Yannick S. durchaus Gründe für eine andere Haltung. Flugverkehr – Passagier- und Frachtverkehr zusammen! – macht drei Prozent der weltweiten CO₂-Emissionen aus. Den durch den individuellen Flugpassagier verursachten Anteil mögen Interessierte mit dem Mikroskop nachprüfen. Wenn schon Einzelverantwortung, dann bitte konsequent. Übrigens: Selbst wenn man den Schiffsverkehr noch addiert, reicht das Ganze nicht an Sektoren wie etwa die Modeindustrie heran. Deren Anteil am globalen CO₂-Ausstoß liegt zwischen acht und zehn Prozent. Im Gegensatz zum Flugverkehr fällt hier zusätzlich zu Treibhausgasen noch tonnenweise Abfall an. Bei der nächsten Blockade sollten die anrauschenden Bild-Reporter den Aktivisten gleich in den Nacken greifen und jedes aufgefundene H&M-Etikett live tickern, auf dass die Nation etwas zum Debattieren hat. Viel übergriffiger als das genüssliche Ausschlachten der Freizeitgestaltung wildfremder Privatleute ist das auch nicht.Ohnehin nimmt es allmählich alberne Züge an, mit welcher Genugtuung der Befund der Doppelmoral vorgetragen wird. Jedes Kind erkennt: Weil man den Aktivisten argumentativ nichts entgegenzusetzen hat, behilft man sich anders.Da werden Verhaltensweisen zum ökologischen Kardinalverbrechen, die bei jedem anderen als vernachlässigbares Detail, Ausdruck der Freiheit oder deutsche Leitkultur gelten, je nach politischem Geschmack. Deutlicher kann man nicht kapitulieren und sich dabei noch mit gekünstelter Empörung zum Gespött machen. „Fleischesser dürfen eh alles“, scherzte der Kabarettist Hagen Rether schon vor Jahren über diese Haltung, „aber der Veganer, der hat gefälligst auf den Brustwarzen zum Bioladen zu robben!“ Überlassen wir dieses Theater lieber den Rechten, die haben darin wenigstens Übung. Özge InanCONTRAKann eine Hochkultur, die ihren aufgeklärten und moralisch überlegenen Charakter bei jeder Gelegenheit herausstellt, an Heuchelei zugrunde gehen? Aber klar, denn hier liegt die Hauptursache für das Scheitern jeglichen Klimaschutzes. An Wissen über die Treibhauswirkung relevanter Mobilitäts- und Konsumpraktiken mangelt es ja nicht. Und die bequeme Ausrede, ökologischer Vandalismus sei Systemzwängen geschuldet, sodass Individuen mit einer klimaschonenden Lebensführung überfordert wären, läuft spätestens dort ins Leere, wo es um dekadenten Luxus geht. Dafür sind Flugreisen das Paradebeispiel.Wer auf legale Weise einen bestimmten Geldbetrag maximal klimaschädigend verausgaben wollte, müsste ihn in Flugtickets investieren. Als zynisch erweist sich deshalb die Schutzbehauptung, der prozentuale Anteil des Flugverkehrs am CO₂-Aufkommen sei verglichen mit anderen Aktivitäten gering. Insoweit viele der Letzteren einer Befriedigung von Grundbedürfnissen geschuldet sind, wäre zu fragen: Ist eine Lustreise nach Bali genauso legitim wie eine auskömmliche Ernährung oder die Elektrizitätsversorgung eines Krankenhauses? Nur ein Bruchteil der Weltbevölkerung kann sich Flugreisen leisten. Würden Menschen überall ähnlich viel fliegen wie Mitteleuropäer, wäre die Erde wohl augenblicklich nicht mehr bewohnbar. Klimaschutz kann auf nichts anderem beruhen als einer global und individuell gerechten Verteilung jenes CO₂-Budgets, das mit der Zwei-Grad-Grenze noch vereinbar ist. Dies liefe auf eine Tonne CO₂ pro Kopf und Jahr hinaus. Ein Flug nach Bali, hin und zurück, verursacht laut atmosfair eine Klimawirkung, die circa acht Tonnen CO₂ entspricht. Übrigens: Würde die obige Relativierung konsequent angewandt, erschiene sogar ein Mord akzeptabel, denn der prozentuale Anteil derartiger Delikte am Gesamtaufkommen aller Todesursachen ist ähnlich gering.Ein weiteres Alibi besteht darin, die Verantwortung der Klimaschutzpolitik zuzuschieben, weil einzelne Individuen durch Verhaltensänderungen nichts ausrichten könnten. Aber dann müsste die Politik der Wählermehrheit harte Einschränkungen oktroyieren, zumal sich der aktuelle Lebensstil niemals durch grüne Innovationen von Klimaschäden entkoppeln lässt. Dennoch halten demokratische Regierungen an dieser Quadratur des Kreises fest, um sich nicht mit der Wählermehrheit anzulegen. Dies führt zu einer doppelten Tragödie. Erstens sind die ökologischen Nebenwirkungen einer technizistischen „Energiewende“ verheerend. Zweitens degenerieren die Beschwörungen eines auf erneuerbarer Energie beruhenden Wohlstands zu einem Ritual, in das sich inbrünstig, aber ansonsten mühe- und folgenlos einstimmen lässt, um das kerosinbelastete Gewissen zu beruhigen.Verbal für Klimaschutz einzutreten, das eigene Leben davon jedoch auszunehmen, untergräbt ein nötiges Überlebensprogramm, das nur in einer maßvollen Konsum- und Mobilitätskultur bestehen kann. Diese setzt soziale Prozesse voraus, bei denen klimaschonende Lebensführungen glaubwürdig (!) vorgelebt werden. Als „soziales Tier“ übernimmt der Homo sapiens Handlungsmuster nur, wenn sie sich als nachahmenswerte Praxis normalisieren. Leider lässt sich aber auch Heuchelei normalisieren. Wenn Aktivist:innen die von ihnen medienwirksam vertretenen Normen durch eigenes Handeln verhöhnen, legitimieren und verbreiten sie genau jene Bigotterie, die moderne Gesellschaften zum Abgrund driften und zugleich in Handlungsunfähigkeit erstarren lässt. Nico Paech