Der Vorschlag, am 21. 9. 2001 die vor zehn Jahren geschehene Gründung von Bündnis 90 mit einem Sommerfest der Bundesorganisation und dem Berliner Landesverband zu feiern, ist im Bundesvorstand von Bündnis 90/Die Grünen mit einer einzigen Gegenstimme, der von Claudia Roth, abgelehnt worden. Das ist ein Skandal! Denn die Öffentlichkeit hat uneingeschränkt recht, wenn sie in einem solchen Beschluss eine Distanzierung von dem Doppelnamen und darin eine Absage an das von diesem Doppelnamen proklamierte Programm sieht.
Der Beschluss ist nicht nur ein Skandal, er ist auch eine Dummheit. In Berlin herrscht Wahlkampf. Ein Wahlkampf, der von der CDU als Lagerwahlkampf mit dem PDS-Thema im Zentrum geführt wird. Da bringen es die Bündnisgrünen fertig, eine V
ünen fertig, eine Veranstaltung abzusagen, die es ihnen ermöglicht hätte, der Berliner Öffentlichkeit in Erinnerung zu rufen, dass der Ostteil der Stadt die Heimat der drei Gründungsorganisationen von Bündnis 90 ist, die alle drei weder am Mauerbau beteiligt waren noch in der Volkskammer für ihn gestimmt haben wie die Blockparteien einschließlich der CDU und der FDJ-Sekretärin Merkel.Aber wen wundert schon eine solche abermalige eklatante Fehlentscheidung, wenn man die Reihe der kapitalen politischen Dummheiten Revue passieren lässt, die den Weg der Bündnisgrünen seit 1993 pflastern. Die Jahreszahl soll daran erinnern, dass es nicht der Regierungsbeteiligung angelastet werden kann, wenn eine Desorientierung auf die andere folgte und mittlerweile beim Publikum der Eindruck herrscht, das Hauptbemühen der Bündnisgrünen bestehe im möglichst wirksamen Vertuschen ihres machtbesitzorientierten Opportunismus. Ich habe es schon oft gesagt: Der klägliche Zickzackkurs der bündnisgrünen Politik wurzelt einzig und allein im Nichternstnehmen der programmatischen Bedeutung der Fusion von Bündnis 90 und Die Grünen.Was nützen alle in wochenlangen Debatten ausgehandelten Vertragsdokumente, was nützt eine zu einer komfortablen Mehrheit für die Fusion gelangte Urabstimmung, wenn beide Seiten sich bis heute nicht klarzumachen bereit sind, dass sie mit der Fusion ein neues Kapitel deutscher Parteiengeschichte eröffnet haben? Im Westen endete das Kapitel der Anti-Parteien-Partei mit ihrem Realo-Fundi-Proporz; im Osten war es mit den Grabenkämpfen um "Bürgerbewegung oder Parteiwerdung" vorbei. Aber was geschah? Beide Seiten führten ihre längst obsolet gewordenen Debatten fort. Wer will auf solchen Sumpfgründen politisch nötige Kampagnen inszenieren und Wahlkämpfe gewinnen?Um die Kampagnenfrage an zwei Beispielen zu veranschaulichen: Friedensfrage und pazifistischer Ansatz standen schon längst vor der Bosnienkatastrophe auf der Tagesordnung. Die Behandlung wurde aus Angst vor der Zerreißprobe immer wieder vertagt, auf mehr oder weniger fragwürdige Weise - bis hin zu jenem schmählichen Redeverbot für Vertreter Bosniens auf einer Bundesdelegiertenkonferenz. Und bis heute steht eine klare Antwort der Bündnisgrünen auf die Frage aus: Halten sie an der angeblich realistischen Alternative Pazifismus oder Regierungsbeteiligung fest? Wenn ja, dann wäre die Verbindung zu den Traditionen der beiden Friedensbewegungen in Ost und West zerschnitten - abermals eine Entscheidung gegen den Namen Bündnis 90/Die Grünen.Das zweite Beispiel: In den Jahren 1990 bis 1993 waren Bündnis 90/Die Grünen Meinungsführer der deutschen Verfassungs- und Demokratiedebatte. Sind die damals aufgeworfenen Grundrechtsfragen etwa erledigt? Wie kann sich in einer Koalition, an der Bündnis 90/Die Grünen beteiligt sind, ein Innenminister halten, der ein seit Beginn der neunziger Jahre von den Bündnisgrünen verfolgtes Anliegen - nämlich endlich Rechtsklarheit in einen Kernbereich der Innen- und Sicherheitspolitik zu bringen, einen Komplex verschiedener Regelungsbereiche: Einwanderung, Asyl- und Flüchtlings-, Niederlassungs- und Staatsbürgerrecht - in ein mit der Verschleierungsvokabel "Zuwanderung" von der CDU/CSU beschriftetes Paket pressen will? Wie kann ein solcher Minister mit einer solchen Politik von Bündnisgrünen toleriert werden, die die deutsche Asyl- und Flüchtlingspolitik genau so kritisch beurteilen wie der Europarat oder das Europäische Parlament, dessen Menschenrechtsberichte wieder und wieder deutsche Menschenrechtsverletzungen verurteilt haben?Wo blieben die kritischen Stimmen von denen, die die "Regelanfrage" bei Ein- und Ausreiseanträgen durch eigene Erfahrung aus jener Zeit nur zu gut kennen, als sie Alltagspraxis der DDR war - die diese Praxis immerhin selbst als so genannt betrachtete, dass sie sie auf ihren entsprechenden Formularen als eine "Maßnahme zur Verbesserung des Reiseservice" auswies?Aber der Innennminister ist ja mit derartigen Vorbildern nicht zufrieden. Er kritisiert den Datenschutz als Täterschutz. Dass die terroristischen Exzesse von New York und Washington durch die Kameras und Abhöranlagen des Überwachungsstaates ebenso wenig verhindert werden konnten wie von den Geheimdiensten aller betroffener Staaten, schert ihn wenig. Sein Interesse am Datenschutz erwacht erst dann, wenn es darum geht, westdeutsche Politiker und ihre Kooperation mit der SED gegen jenes Gesetz zu schützen, das ein ganz neues Kapitel des Datenschutzes eröffnete: indem es am Beispiel der Staatssicherheit der DDR die Menschenrechts- und Grundrechtsfeindlichkeit aller Geheimdienste ebenso anprangerte wie es ihre krasse Ineffizienz decouvrierte.Wie eine Zusammenfassung aller Orientierungsnotstände der Bündnisgrünen wirkt das unlängst veröffentlichte Grundsatzprogramm. "Uns verbindet, uns eint keine Ideologie, sondern ein Kreis von Werten": Welch ein phrasenhaftes und geschwollenes Deutsch - ein würdiges Präludium dieser Magna Charta der Verschwommenheiten, die ihren Höhepunkt in der lächerlichen Versicherung erreicht, Bündnis 90/Die Grünen seien nicht mehr Anti-Parteien-Partei, sondern "die Alternative in der linken Mitte". Demokratie - Ökologie - Menschenrechte, darauf hatten sich Bündnis 90/Die Grünen bei ihrer Fusion festgelegt. Was spricht dafür, diese Trias durch jenen Kunstblumenkranz von Werten zu ersetzen, den der Entwurf uns anbietet? Was eigentlich muss noch geschehen, damit die Bürgerrechtspartei sich endlich aufrafft, der Erosion der Demokratie durch die Wahnvorstellung der Verwandlung der Welt in einen einzigen Markt, der Verhöhnung der Ökologie durch kurzfristige Gewinnspiele und der Marginalisierung der Menschenrechte durch Weltkriegsstrategien ein unmissverständliches politisches Engagement entgegenzustellen?Wie ich höre, haben Gründungsmitglieder von Bündnis 90 vorgeschlagen, diese Worte aus dem Namen der Organisation zu streichen. Ich habe hier zu begründen versucht, warum ich die Reaktivierung des Programms von 1991 für gerade unter den derzeitigen Umständen dringend geboten halte. Bündnis 90 aus dem Namen zu streichen, das heißt auch den Rest für überflüssig erklären.