Handel Russland investiert Milliarden in die Belebung der Nordostpassage. Eine finnische Stadt wittert daher ihre Chance, Verkehrsknotenpunkt am Polarkreis zu werden
Timo Rautajoki leitet die nördlichste Handelskammer der EU. Sein Büro im Zentrum der finnischen Kleinstadt Rovaniemi liegt 700 Kilometer südlich des Nordkaps, 800 Kilometer nördlich der Hauptstadt Helsinki und mehr als 2.500 Kilometer von Brüssel entfernt. Dass er weitab vom Schuss ist, stört den Anfang 60-Jährigen wenig. Er liebt die Kälte und die schier endlose Wildnis der Arktis. Trotzdem fühlt sich Rautajoki im Stich gelassen. Denn weder die finnische Regierung noch die Europäische Kommission wollen ihm zuhören. Seit 20 Jahren kämpft der Finne für den Traum einer arktischen Eisenbahnstrecke, die Europa mit der Barentssee und einer Handelsroute nach Asien, der berühmten Nordostpassage, verbinden soll.
„Die EU mac
Die EU macht nichts aus der Arktis“, beschwert sich Rautajoki. Seine Stadt Rovaniemi, so findet er, hat das Zeug dazu, das „Tor zur Arktis“ zu werden, durch das jedes Jahr Abermillionen Tonnen asiatische und europäische Gebrauchswaren, aber auch Öl und andere wertvolle Rohstoffe passieren könnten. Das kleine Handelskammer-Büro würde zu einem gläsernen Hochhaus, in dem internationale Wirtschaftsvertreter sich die Klinke in die Hand geben. Das 60.000-Einwohner-Städtchen Rovaniemi wäre dann nicht mehr Hinterland, sondern ein globaler Handelsplatz, dessen Namen in Brüssel und Helsinki keiner mehr so schnell vergisst.Placeholder image-1Doch bisher ist Rovaniemi nur eine Endstation. Von hier aus geht es nur noch per Straße in den Norden. Hinter dem gelben Bahnhofsgebäude an der Stadtgrenze stehen Busse, die Reisende nach Ivalo, Inari oder Utsjoki an der finnisch-norwegischen Grenze bringen. Die Idee einer Eisenbahn von Rovaniemi bis zum norwegischen Barentssee-Hafen Kirkenes ist bisher nichts als ein Papiertiger, der seit Jahren in den Brüsseler Schubladen sein Dasein fristet.Als Norwegen 2006 eine eigene Arktis-Strategie vorlegte und russische Forscher 2007 als Erste den Meeresgrund am Nordpol erreichten, um dort ihre Landesflagge in den Boden zu rammen, dachten viele, die arktische Stunde habe geschlagen. Während des „arktischen Hypes“ träumten Politiker und Strategen davon, eine der unwirtlichsten Gegenden der Erde zu einem prosperierenden Wirtschaftsraum zu machen. Seitdem hat sich nicht viel getan – obwohl die Bedingungen im Norden durch das schmelzende Eis nie besser waren. Allein in diesem Winter hatte die Arktis ihre historisch geringste Eisausdehnung seit Beginn der Messungen im Jahr 1979. Trotzdem ist der finnische Volkswirt Rautajoki seiner Vision noch kein Stück näher gekommen.Die Touristen kommenDie Geschichte der kommerziellen Nutzung der Nordostpassage ist noch jung. Erst 2009 passierten die ersten Handelsschiffe die Barentssee, die Karasee und die Ostsibirische See bis zum Beringmeer und nach Asien. In den arktischen Gewässern wie der Barentssee sind heute so viele Schiffe wie noch nie unterwegs – vor allem Reiseanbieter haben das Gebiet für Kreuzfahrten entdeckt. Russische Eisbrecher eskortierten im vergangenen Jahr 420 Containerschiffe mit einer Ladung von zusammen rund fünf Millionen Tonnen. Insgesamt, also auch ohne die Eisbrecher, transportierten die Schiffe sieben Millionen Tonnen durch die arktischen Gewässer – eine Steigerung um 35 Prozent gegenüber 2015.Allerdings legten nur 19 Schiffe den gesamten Weg von der Barentssee bis zum Beringmeer zurück. Das ist ein Bruchteil im Vergleich zur üblichen Transitstrecke über den Suezkanal in Nordafrika. Dort passieren pro Jahr rund 17.000 Containerschiffe. „Es ist ziemlich unwahrscheinlich, dass die Nordostpassage für den Transitverkehr so schnell zu einer Alternative zum Suezkanal wird“, meint die russische Politikwissenschaftlerin Vilena Valeeva, die am Institute for Advanced Sustainability Studies (IASS) in Potsdam arbeitet. Absehbar sei allerdings eine Zunahme der Schifffahrt insgesamt in arktischen Gewässern, vor allem aufgrund der Rohstoffexporte.Ein Beispiel dafür ist das Megaprojekt im Hafen von Sabetta, an der Mündung des sibirischen Ob-Flusses. Dort – rund 2.500 Kilometer nordöstlich von Moskau – baut die russische Regierung seit Jahren an einem LNG-Terminal (liquefied natural gas), von dem von diesem Jahr an verflüssigtes Erdgas aus Sibiriens Gasfeldern in alle Welt verschifft werden soll. Der neue Hafen liegt auf der Route der Nordostpassage und ist ein Anlaufpunkt für Transitschiffe.Russland zeigt als Anrainerstaat mit der längsten arktischen Küstenlinie ohnehin das größte Interesse. Insgesamt investierte das Land laut Schätzungen des Arktischen Zentrums der Universität Lappland von 2010 bis 2020 über drei Milliarden Euro in die Infrastruktur der Nordostpassage – militärische Investitionen kommen noch hinzu, sind aber laut Experten nicht zu beziffern. Das Land besitzt mit vier Atom-Eisbrechern die stärkste Flotte der Welt – ein fünfter Eisbrecher soll Anfang nächsten Jahres seinen Dienst aufnehmen, zwei weitere sind in Planung. Allein der Bau dieser drei schwimmenden Atomreaktoren kostet den russischen Staat weit über zwei Milliarden Euro zusätzlich zu den Ausgaben für den Aufbau von Häfen, Versorgungszentren und Seenotdiensten. Die Russische Akademie der Wissenschaften rechnet mit einer Verzehnfachung des Verkehrs bis 2025 von den heutigen sieben auf ganze 75 Millionen Tonnen.China steigt ein„Bisher werden auf dem Nördlichen Seeweg fast ausschließlich Rohstoffe und Fischerzeugnisse verschifft“, sagt Adam Stepien, polnischer Politikwissenschaftler des Arktischen Wissenschaftszentrums in Rovaniemi. „Ein Transitverkehr zwischen Asien und Europa mit Gütern ist bisher noch Zukunftsmusik.“ Die Nordostpassage sei zwar rund 7.000 Kilometer kürzer als der Seeweg über den Suezkanal nach Asien, doch die Unsicherheiten und klimatischen Bedingungen ließen die Kosten in die Höhe schnellen. „Neben Russland hat aber mittlerweile China die Vorteile der Nordostpassage für sich entdeckt“, beobachtet Stepien. „Für die chinesische Regierung ist es langfristig attraktiv, eine Alternative zum Suezkanal aufzubauen.“ Denn dieser liegt in einer politisch instabilen Region – sollte das Nadelöhr im Süden geschlossen werden, hätte das enorme Auswirkungen auf die chinesische Exportwirtschaft.Die EU hingegen ist in Sachen Arktis zurückhaltend. In einem Strategiepapier erklärte die EU-Kommission, dass ein Netzwerk für die Sicherheit des arktischen und atlantischen Schiffsverkehrs aufgelegt werden müsse. Das EU-Parlament forderte in einer Resolution etwas nebulös, die Umwelt- und Klimarisiken einer wachsenden Schifffahrt auf dem Nördlichen Seeweg prüfen zu lassen. Kein Wort von Kooperationen mit dem Nicht-EU-Land Norwegen für einen Zugang zu arktischen Gewässern oder gar von einer Anbindung an die Barentssee. Auch von einer Bahnstrecke von Estlands Hauptstadt Tallin nach Helsinki oder gar von Rovaniemi an die norwegische Küste ist in den Planungen transeuropäischer Trassen nicht die Rede.Timo Rautajoki, der Leiter der Handelskammer in Rovaniemi, hält trotzdem daran fest, dass die nordfinnische Stadt die Verbindung der EU zur Arktis werden könnte. Von dort aus sind es „nur“ noch 500 Kilometer bis zum arktischen Hafen in Kirkenes. Der Ausbau des Eisenbahnnetzes könnte allerdings Milliarden kosten, so schätzen Experten. Rautajoki hat in ein paar Wochen einen Termin in Brüssel, um der Europäischen Kommission „in Ruhe“ zu erklären, warum die Union jetzt in die Arktis investieren sollte. Dafür hat er einen Werbefilm machen lassen, in dem ein Zug mit der Aufschrift „Arctic Railway“, unterlegt mit theatralischer Musik, durch die verschneiten Landschaften Lapplands rast. Das Pathos hat den Charme von Filmen wie Doktor Schiwago und den technologischen Aufbruchsgeist der 1960er Jahre. Ob diese arktische Romantik Brüssel überzeugt?Die Kommission ließ immerhin verlauten, dass in der transnationalen Ausbauphase ab 2023 erneut über die Bahnstrecke diskutiert werden müsse. Da eine solche Handelsroute von Europa in die Arktis ein starker Eingriff in eine unberührte Natur sei, müsse die EU zunächst die ökologischen Risiken abwägen, so die Sprecherin der EU-Kommission, Iris Petsa.Dafür sollen auch lokale Bevölkerungsgruppen einbezogen werden. Das letzte indigene Volk Europas, die in Lappland ansässigen Samen, hat schon Widerstand angekündigt. Deren Vertreter halten weder etwas von der Ausbeutung der arktischen Ressourcen noch von neuen Straßen und Eisenbahnrouten durch die Naturschutzgebiete Nordfinnlands und Norwegens.Placeholder authorbio-1
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