Claudia, 17, schmiss mit 14 die Schule und schnorrt sich seitdem mit Freunden durch Deutschland. Sie trägt einen Ring in Nase und Lippe, blondgefärbte Strähnen im wild frisierten Haar.
Micha, 22, lebt seit dem 14. Lebensjahr auf der Straße. Unter seinem Stuhl streicht sein Hund "Enemy" umher, den er vor kurzem geschenkt bekommen hat.
Oliver, 20, fand abhängen mit Freunden interessanter als Schule. Er bekommt während des Gesprächs die Nachricht, dass er eine Lehrstelle als Landschaftsgärtner hat. Der Skinhead rechnet sich politisch der Arbeiterklasse zu und will mit Faschos nichts zu tun haben.
FREITAG: Es ist drei Uhr nachmittags, und die Republik arbeitet ...
CLAUDIA: Wir arbeiten auch - nämlich Gleitzeit.
MICHA: Bei mir hat es gestern mit dem Schnorren gut geklappt. Heute habe ich frei.
Wie lange müsst ihr schnorren, damit's reicht?
MICHA: Gestern vier Stunden. Manchmal brauche ich sechs.
CLAUDIA: Das hängt vom Tag ab: Wenn es regnet, läuft es schlechter, vor Weihnachten und am Samstagmorgen dagegen wunderbar. Wochenende ist Scheiße: Keine Leute in der Stadt.
Vier Stunden - das ist ein Halbtagsjob. Was macht ihr danach?
OLIVER: Saufen.
CLAUDIA: Ja, saufen. Gegen die Langeweile.
Klingt nicht gerade erfüllend. Sonst nichts?
CLAUDIA: In den ersten zwei Jahren auf der Straße bin ich viel gereist, habe mir Deutschland angeschaut. Ich habe in allen großen Städten geschnorrt.
OLIVER: Etwas anderes in der Freizeit machen ist gar nicht so einfach. Ohne Geld kein Konzert, kein Fitnessstudio, kein Fußballverein. Der kostet 80 Mark im Jahr. Und dazu kommen Fußballschuhe und Trikots. Das ist zu teuer für mich. Deswegen hänge ich eben auf der Straße mit Kumpels rum. Man säuft und fängt an, irgendwelche Sachen kaputtzumachen, bis das Leben außer Kontrolle gerät. Wir haben Kreuze auf einem Friedhof umgedreht und den Pfarrer bedroht. Fanden wir cool.
Hat man euch erwischt?
OLIVER: Wegen 'ner anderen Sache. Da hatte ich einen Glascontainer umgeschmissen. Das war alles Jugendscheiße. Ich muss te als Strafe 80 Stunden im Krankenhaus Betten in die Desinfektionsabteilung schieben, weil ich den Schaden ja nicht bezahlen konnte.
MICHA: Ich habe mit einem Kumpel Scheiben an Bushaltestellen kaputtgeschlagen. Sowas wird natürlich teurer als Fußballschuhe kaufen - wenn man denn Geld hat und den Schaden bezahlen muss. Ich hatte aber nie Geld. Für die Scheibengeschichte habe ich zwei Jahre auf Bewährung bekommen und 80 Arbeitsstunden. Weil ich zum Arbeiten zu faul war, musste ich dann vier Wochen ins Jugendhaus. Damals dachte ich, wir hätten aus Spaß die Scheiben kaputtgemacht. heute weiß ich: es war Frust.
CLAUDIA: Das mit der Randale ist doch Kinderquatsch. Das Leben auf der Straße kann auch schön sein. Die Unabhängigkeit genieße ich. Machen können, was ich will, viele Leute kennenlernen und ständig unterwegs sein.
MICHA: Ja schon, aber nach einem halben Jahr beginnt der Überlebenskampf. Dann sind alle Freunde abgeklappert, wo man mal pennen oder essen kann, alle Goldkettchen und der Kassettenrekorder verkauft, die vielleicht noch von zu Hause übriggeblieben sind. Das einzig Gute daran ist: man lernt 'ne Menge. Stell dir vor, in Deutschland fällt für zwei Wochen der Strom aus. Dann ist die Nation besiegt. Ich habe den Ekel vor Würmern schon überwunden, würde immer Essen finden.
Kein Neid auf diejenigen, die noch keine Würmer essen mussten?
MICHA: Ich habe mehr erlebt als ein 60-jähriger, der nur gearbeitet und seinen Fahrplan abgespult hat. Viele Erlebnisse vergesse ich nie. Als ich im Winter unter einer Schneedecke aufgewacht bin. Oder als ich mit einem Kumpel zu einem Fest unterwegs war und wir uns verliefen. Dann hat's geregnet. Zwei Tage hingen wir unter einer Brücke fest, haben viel geredet, an nichts gedacht, außer eben daran, dass wir unter einer Brücke saßen und redeten. Das ist eine Schule fürs Leben.
Was lernt man da?
MICHA: Durchhalten. Freiheit ertragen.
OLIVER: Das Straßenleben ist eine wichtige Erfahrung für mich gewesen. Aber ich möchte die Kurve kriegen, einen dicken Strich unter mein bisheriges Leben machen. Ich kann jetzt als Lehrling in einer Landschaftsgärtnerei anfangen.
Ohne festen Wohnsitz bekommt man doch normalerweise keine Stelle ...
OLIVER: Seit einem Monat habe ich ein kleines Zimmer im Haus der Jugend. Ein Pfarrer leitet es, um Leute von der Straße runterzukriegen. Neuneinhalb Quadratmeter, ein Kühlschrank, gemeinsame Duschen und Küche, kein Besuch nach 24 Uhr, keine Haus tiere.
Gilt der dicke Strich auch für deine bisherigen Freunde?
OLIVER: Ich will endgültig von der Straße weg, dazu gehört auch ein bisschen Distanz zu meinem Kumpels, vor allem innerhalb der Woche. Aber am Wochenende bleibt alles beim Alten, da machen wir Party.
Claudia und Micha, kommen euch Olivers Pläne langweilig und öde vor?
MICHA: Wenn er damit glücklich ist, ist das o.k.
CLAUDIA: Öde schon. Aber vielleicht sehe ich das morgen anders.
Oder spießig?
CLAUDIA: Was heißt spießig? Spießer sind verwöhnte Menschen, die mit 14 schon ein Handy haben und glauben, sie seien was Besseres als andere. Oliver wird ehrliche Arbeit machen. Das ist etwas anderes.
OLIVER: Spießig sind Claudia und ihr Freund. Die hängen den ganzen Tag zusammen rum, wie ein altes vermotztes Ehepaar. Aber im Ernst: Spießer verachten uns, weil sie neidisch sind, dass wir sagen können, was wir denken. Ich hoffe, dass ich damit kein Problem bei meiner Lehrstelle bekomme. Zum Glück gibt es Leute, denen meine Art gefällt.
Wie kam es dazu, dass ihr auf der Straße gelandet seid?
MICHA: Ich musste immer früh zu Hause sein. Als ich 13 war, kam ich, wann ich wollte. Meine Mutter schlug mich. Ich schlug zurück. Am nächsten Morgen standen Koffer mit meinen Sachen vor der Tür. Seitdem habe ich meine Mutter dreimal gesehen. Das letzte Mal im Rathaus, um meine Geburtsurkunde zu bekommen.
CLAUDIA: Ich habe in der achten Klasse die Schule abgebrochen, weil ich keinen Bock mehr hatte. Abhängen mit Freunden war interessanter. Schon morgens um acht das erste Bier und so durch den ganzen Tag.
Wenn ihr viel Geld hättet, was würdet ihr machen?
CLAUDIA: Ich würde mir ein Zimmer mieten und einen Job als Tierpflegerin suchen.
OLIVER: Wenn ich jetzt eine Weile schufte und Kohle habe, fahr' ich mit einem Kutter um die Welt, kaufe mir später vielleicht ein Haus an einem See. Oder ich mach' ein Plattenlabel für Streetpunk auf.
MICHA: Ich möchte eine Blockhütte bauen und ein Stück Land in Kanada kaufen, mich selbst versorgen. Diesen Traum habe ich, seit ich mit 14 vom Jugendamt für ein Jahr nach Frankreich auf einen Bauernhof zwangsverbannt wurde. Am Anfang war das schrecklich, ohne Kumpels, kilometerweit weg vom nächsten Dorf. Aber zum Schluss wollte ich nicht mehr weg. Die mussten mich mit Handschellen ins Flugzeug schleifen. In Deutschland hing ich wieder auf der Straße rum und nahm Heroin.
OLIVER: Oh ja, als ich dich vor einem Jahr kennengelernt habe, warst du schlecht beieinander.
MICHA: Den Entzug habe ich allein geschafft. Ich möchte mein Leben wieder in den Griff bekommen. Weniger Alkohol trinken, morgens sogar gar keinen, bis ich mit den Ämtern alles geregelt habe, Stütze und so. Ich möchte ganz einfach noch eine Weile leben. Eine Knarre habe ich schon mehrfach vors Gesicht gehalten bekommen, und die Droge macht einen fertig.
Möchtest du wieder aus Kanada zurückkommen?
MICHA: Ich glaube nicht. Ich will so sterben wie Falco. Mit richtig viel Gebrüll: Kokain schnupfen und eine Flasche Whisky saufen, dann ins Auto setzen und in einer Kurve, in der ein schöner Baum steht, geradeaus fahren. Bäume gibt es in Kanada genug.
Das Gespräch führte Tilman Wörtz
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