Der Freitag: Professor Gall, man stellt sich die Zeit um 1900 als Glanzzeit des Bürgertums vor. In Ihrem neuen Buch über Walther Rathenau schreiben Sie aber, das Wort Bürgertum sei damals ein abwertender Begriff gewesen.
Lothar Gall:
Doch, das war es, natürlich. Bürgerlich essen, bürgerlich wohnen, das war alles abwertend. Man wollte kein Bürger mehr sein. Man war aber ein Bürger.
Wie geht das denn?
Das alte Bürgertum wurde im späteren 19. Jahrhundert abgelöst von einem neu entstehenden Bürgertum mit ganz neuen Ideen.
Nennen Sie ein paar.
Nehmen Sie Walther Rathenau. Der stand immer Schatten seines dramatisch erfolgreichen Vaters Emil Rathenau, des Gründers der AEG. Er ist dann in Opposition gegen den Vater und auch gegen dessen Welt zu einem entscheidenden Vertreter des neuen Bürgertums geworden: Er war ein Kritiker der Monopolisierung der Wirtschaft, ihrer Entwicklung hin zu immer größeren Dimensionen. Das hat er alles sehr analytisch betrachtet. Darauf beruht auch wesentlich sein Einfluss. Dinge, die Thomas Mann in seinen publizistischen Schriften geschrieben hat, tauchen bei Rathenau genau so auf.
Welche Dinge?
In der Kritik an der Gesellschaft der Zeit sind sie ganz auf einer Linie. Thomas Mann ist zwar ein Konservativer, aber er ist ein scharfer Kritiker seiner Zeit und damit des etablierten und depravierten Bürgertums. Rathenau sagt, die Zeit um 1800, das war die große Zeit – auch der Ideen wegen, die damals entwickelt wurden. Daran müssen wir wieder anknüpfen.
Was waren das für Ideen?
Man orientierte sich an der bürgerlichen Aufbruchsbewegung von etwa 1800. Man verkennt oft, was in diesem frühen Bürgertum an revolutionärer Dynamik steckte. Die wollten gewissermaßen die Ziele der französischen Revolution erreichen und durch Reformen durchsetzen. Davon ist man im Weiteren immer mehr abgerückt.
Lässt sich das auf die heutige Zeit übertragen? Auch heute hat der Begriff Bürgertum einen gewissen Beigeschmack und doch gibt es Tendenzen, bürgerliche Lebensformen wieder herzustellen.
Ich denke, dass die Beschwörung von Bürgertum heute etwas sehr Äußerliches hat. Das Bürgertum als soziale Schicht, wie es die alten Buddenbrooks gewesen sind, gibt es nicht mehr. Das Bürgertum der früheren Zeit sollte zum allgemeinen Stand, zur Vorhut einer Gesellschaft der Zukunft werden. Jeder Mensch sollte die Möglichkeit haben, zum Bürger zu werden. Das war gewissermaßen der Idealismus der frühen bürgerlichen Bewegung. Konstituiert aber wurde dieses Bürgertum durch die gemeinsamen Bildungswerte.
Erinnert das nicht an die Bestrebungen, durch Bildung in einem bürgerlichen Rahmen Chancengleichheit herbeizuführen, wie man das in der Bundesrepublik, besonders während der sozialliberalen Koalition, erlebt hat?
Ja. Aber die Realität einer sich in stärkerem Maße vom Kapitalismus bestimmten Gesellschaft hat das in den Hintergrund gedrängt. Man hing dem an in den Abendstunden, aber im praktischen Leben lebte man anders. Im 18. Jahrhundert war die Vorstellung, dass man einer gemeinsamen Bildungsschicht angehörte und in diese mit seiner Leistung immer aufsteigen konnte, eine feste Überzeugung. Die entscheidende Frage war nicht: Ist er ein Bürger? Sondern: Ist er gebildet? Das ist ein wenig verloren gegangen. Nehmen sie die Familie Schickedanz. Sind das Bürger im engeren Sinne?
Eine klassisch bürgerliche Familie wäre mit ihrem Vermögen eingesprungen, um das Unternehmen, hier Quelle, zu retten?
Ja, wahrscheinlich. Weil es seiner Bildungsvorstellung entsprach, dass man Verantwortung auch im negativen Falle übernehmen muss. Weil man einem Gemeinwesen angehört. So ist es zumindest beim Bürgertum, das aus Eigentümern besteht. Es verhält sich anders als das Bürgertum, das aus Managern besteht. Wir hier in Frankfurt erleben das sehr genau: Die Krise hat alle Banken getroffen, selbst die Deutsche Bank – aber ein Bankhaus, das im 17./18. Jahrhundert gegründet worden ist, wie die Firma Metzler, ist davon nicht betroffen. Die haben sich nicht so sehr in diese Risiken begeben und haben überlebt. Das ist ein Bankhaus, das nach bürgerlichen Gesichtspunkten von den Eigentümern geführt worden ist.
Augenmaß und Bescheidenheit als klassisch bürgerliche Tugenden – das klingt fast zu schön.
Natürlich, ja. Das sind Elemente, die nebeneinander stehen. Aber wenn Sie fragen, ob das nicht ein idealisiertes Bild vom Bürgertum ist, so gebe ich das unmittelbar zu.
Bringt nicht jede Generation ihr je eigenes Bürgertum hervor? Es gab vor einigen Jahren den Versuch von Leuten wie Paul Nolte, ein neues Bürgertum auszurufen – und das hat viele, auch bürgerlich lebende Leute verschreckt.
Die aktuelle Hamburger Schulreform dehnt die Grundschule auf sechs Jahre aus – ein Versuch, gleiche Bildung für alle zu erreichen.
Sicher. Es sind aber immer diese schroffen Elemente drin, die zur Idee des Bürgertums nicht passen. Die Idee des Bürgertums als Vorhut einer Gesellschaft ist die, dass zwar alle Leistungsunterschiede und Unterschiede der Individuen akzeptiert werden, dass man aber eine Vorstellung von der Gesamtgesellschaft teilt. Wenn sich das wieder ausbilden würde, wäre das ein großes, utopisches Ziel, das sich messen lassen kann an dem, was die Generation Humboldts vor Augen gehabt hat. Die Gesellschaft, die keine Klassenunterschiede mehr kennt, die das Proletariat aufsaugt und zu Bürgern macht. Das ist die Kernidee.
Es gibt den Satz von Heinz Kühn, dem früheren Ministerpräsidenten von NRW: Wir schicken unsere Kinder an die Universität und danach wählen sie CDU. Genau das ist ja dann auch passiert.
(lachend) Aber sehr langsam und
doch nicht in dem Ausmaß.
Wann ist das Bürgertum ihrer Meinung nach verschwunden?
Ich glaube, dass es die Inflationszeit nicht überlebt hat. Da sind die materiellen Grundlagen vernichtet worden. Denn natürlich war das Bürgertum auch eine materiell geprägte Schicht. Das Bürgertum erlebte seinen geistigen, aber auch seinen materiellen Aufstieg Ausgang des 18. Jahrhunderts. Diese Schicht existierte nach der Inflationszeit nicht mehr.
In seinem Erinnerungsbuch „Die Welt von gestern“ schildert Stefan Zweig die Welt des Bürgertums um 1900 als eine Zeit später unvorstellbarer Sicherheit.
Das ist ein zentrales Moment.
Erleben wir das heute ähnlich? Sind die Menschen so ruhig angesichts der Krise, weil sie seit Jahrzehnten relativ umfassende Sicherheiten gewohnt sind?
Das werden wir sehen. Frau Schwan zum Beispiel, die hat auf die Unruhen gewartet. Es gibt ein Gefühl der Sicherheit, aber diese Grundsicherheit, die unmittelbar anknüpft an das, was die vorigen Generationen hatten, die gibt es nicht. Dazu sind die Umbrüche der zwei Weltkriege und des Dritten Reiches viel zu tief.
Aber selbst die heute 60-Jährigen sind nach dem Krieg geboren und kennen nichts anderes als relative Sicherheit.
Ich selbst entstamme einer Generation, die das etwas kritischer sieht.
Sie sind Jahrgang 1936.
Ja. Vielleicht aber sieht die Generation, die jetzt heran wächst, das anders. Die sagt, wir sind wieder in einem neu entstehenden bürgerlichen Zeitalter, das sich auch auf seine alten Werte beruft. Fände ich persönlich sehr gut. Ich habe immer gemeint, diese Umbrüche sind nicht revidierbar. Wenn Sie bedenken: So eine Stadt wie Frankfurt ist ruiniert worden im Zweiten Weltkrieg. Und das, was entstanden ist, hat mit dem alten Frankfurt nichts mehr zu tun.
In Ihrem Buch über Walther Rathenau erfährt man, dass Albert Speer als Organisator der NS-Kriegswirtschaft sich auf Rathenau bezieht.
Aber nur in dem einen Fall. Da hat er gesagt: Das hat schon Rathenau gemacht ...
... und meinte Rathenaus Rolle als Organisator der Kriegswirtschaft im Ersten Weltkrieg. Wann hat sich Speer mit Rathenau vergleichen – nach dem Krieg?
Er hat das im Krieg gesagt. Das Zeugnis ist von 1943. Aber das durfte nun Hitler nicht als exemplarische Fußnote übertragen werden, dass sich sein Rüstungsminister auf Rathenau berief.
Muss man sich Rathenau als schillernde Salonfigur vorstellen?
Manche haben gesagt, der Rathenau ist verklemmt. Weil er wohl homosexuell war. Das war in der damaligen Zeit ein Element der Diskriminierung. Es hat ihn tief berührt, dass er Jude war und homosexuell, obwohl er das, soweit man weiß, kaum je praktisch ausgeübt hat. Jedenfalls fühlte er sich auch in dieser Hinsicht als ein Außenseiter der Gesellschaft. Das hat er früh empfunden – aber eben dadurch eine Klarsicht entwickelt auf die Verwerfungen der Gesellschaft und auch auf ihre Lebensziele. Das fand ich so spannend. Weil er damit einen Blick ermöglicht auf das zentrale Thema, das ich habe: das Entstehen einer neuen Bewegung, einer Renaissance des bürgerlichen Aufbruchs. Gerade weil er Außenseiter war, sah er die Stärken und die Schwächen dieses neuen Bürgertums besonders deutlich. Mein Buch ist eine Geschichte in allgemeiner Absicht, aber konzentriert auf die Person Rathenaus.
Man erinnert sich heute an Rathenau vor allem als Politiker der frühen Weimarer Zeit.
Er ist von der Nachwelt viel stärker als tragisch gescheiterter Außenminister dargestellt worden, weniger als wichtige Figur in den eineinhalb Jahrzehnten vor dem ersten Weltkrieg. Dass er dann Minister wurde, dass er in vielen Bereichen der Weimarer Republik eine entscheidende Rolle spielte, seine Ermordung, das ist nur ein wirklich kleiner Ausschnitt, der mich in dem Buch nicht zentral beschäftigt. Er war jemand, der in der Zeit nach 1900 die neue Welt mit herbeiführen wollte und das in vielen Bereichen. Er war ein Kommentator seiner Zeit wie es nur wenige gegeben hat.
Hat er eine Utopie formuliert?
Er hat in allem eine Utopie formuliert. Ob er über die Architektur spricht, über die Kunst, über die Musik, er hat sich auch als einflussreicher Mann der AEG eingesetzt für Peter Behrens.
Also gegen die Repräsentationsarchitektur der wilhelminischen Zeit.
Das fand er furchtbar – alles was Wilhelm ist, alles Dekor, auch die ganzen Äußerlichkeiten des damaligen Bürgertums, das sich sogar adeln lässt. Sein Vater hat einmal gesagt: Ich brauche doch keinen Adelstitel. Ich bin ein erfolgreicher Bürger. Das ist es.
Das Gespräch führte Sebastian Hammelehle
Lothar Gall lehrte bis zu seiner Emeritierung 2005 an der Goethe-Universtität in Frankfurt a. M. Bekannt wurde er vor allem durch seine Bismarck-Biografie. Zuletzt erschien von ihm Walther Rathenau. Portrait einer Epoche
Kommentare 10
Die schlimmsten Theorien sind immer die, die nicht ganz falsch sind. Eine differenzierte Sicht auf die Geschichte und Kulturgeschichte des Bürgertums und der bürgerlichen Gesellschaft wird durch die eigentümlich nivellierende Darlegung von Gall jedenfalls eher behindert als befördert.
Die äußert sich sprachlich in dem durchgängigen Gebrauch des Wörtchens "man". "Man wollte kein Bürger mehr sein. Man war aber ein Bürger". MAN war um 1900 aber keineswegs ein Bürger, sondern lebte zum großen, wenn nicht immer noch überwiegenden, Teil auf dem Lande, das einem aber seit langem keine ausreichende Existenzmöglichkeit mehr bot, weswegen MAN auf der dringlichen Suche nach einer solchen in die Hinterhöfe der rapide angewachsenen Industriestädte gespült oder übers Meer geworfen wurde. Dies übrigens keineswegs als Auswanderer in unserem Verständnis, sondern, wie andere Türken auch, als Arbeitsmigrant, in der Hoffnung, eines Tages wohlhabend zurückkehren oder wenigstens die Braut nachkommen lassen zu können. Der Kontakt zu der daheim Gebliebenen gestaltete sich aber durchaus schwierig, man musste, da MAN nicht richtig lesen und schreiben konnte, Geld für professionelle Liebesbriefschreiber aufbringen.
So stand es in der Realität zur Zeit der Buddenbrooks um die Idee des frühen Bürgertums, "jeder Mensch sollte die Möglichkeit haben, zum Bürger zu werden (...), durch die gemeinsamen Bildungswerte".
"Im 18. Jahrhundert war die Vorstellung, dass MAN einer angehörte und in diese mit seiner Leistung immer aufsteigen konnte, eine feste Überzeugung." - Das ist allerdings eine mehr als gewagte Behauptung. Da man in eine Schicht, der man als angeblich "gemeinsamer Bildungsschicht" bereits angehört, kaum noch aufsteigen kann und muss, ist es von Interesse, wie es in dem hochgelobten 18. Jh. um die Aufstiegsmöglichkeiten der (noch) nicht Gebildeten bestellt war.
Dem nicht minder, selbst vom großen Kant, hochgelobten "aufgeklärten Monarchen" Friedrich II. von Preußen, den MAN auch den Großen nennt, wird vielfach nachgesagt, er habe die allgemeine Schulpflicht eingeführt. Tatsächlich geschah dies bereits durch seinen Vater Friedrich Wilhelm I. Wie jener hatte dieser es mit dem Räsonieren, mit dem "aufgeklärten" Unterschied, dass dieser seine "Untertanen" warnte: "Räsoniert nicht, sondern gehorcht!, was der Aufgeklärte abwandelte in: "Räsoniert soviel ihr wollt, aber gehorcht!"
Die Reform seines Vaters von 1717 bestätigte Friedrich allerdings durch das "Generallandschulreglement" von 1763.
Aus einem Brief von 1779 an den an den Minister von Zedlitz geht klar hervor, dass die "gemeinsame Bildungsschicht" nur eine ganz schmale städtische bürgerliche Schicht betraf, die auch ohne die königlichen Edikte ihre Söhne (!) auf die Schulen schickte. Die selbstherrlich waltenden ostelbischen preußischen Junker scherten sich einen Teufel um die Schulbildung ihrer "erbuntertänigen" Jugend. Das wusste auch Friedrich, und backte in Bezug auf die ländliche Schulbildung kleine Brötchen.
In dem angesprochenen Brief In diesem Brief äußert sich Friedrich recht ausführlich über die Beudeutung von Rhetorik und Logik für das "Raisonieren" und schlägt hierfür einige Klassiker vor (Quintilian und Wolf). All dies gilt für die Schulen der großen Städte Preußens, genannt werden Königsberg, Stettin, Breslau, Berlin, Magdeburg. Auch die kleineren Städte sollen berücksichtigt werden. Zum Schluss des Briefes kommt der Preußenkönig dann noch auf das "platte Land" zu sprechen:
"Daß die Schulmeister auf dem Lande die Religion und die Moral den jungen Leuten lehren, ist recht gut, und müssen sie davon nicht abgehen, damit die Leute bei ihrer Religion hübsch bleiben und nicht zur katholischen übergehen ... Darum müssen die Schulmeister sich Mühe geben, daß die Leute Attachement zur Religion behalten, und sie soweit bringen, daß sie nicht stehlen und nicht morden... sonsten ist es auf dem platten Lande genug, wenn sie ein bisgen (!) Lesen und Schreiben lernen; wissen sie aber zu viel, so laufen sie in die Städte und wollen Sekretärs und so was werden; deshalb muß man auf´n platten Lande den Unterricht der Leute so einrichten, daß sie das Notwendige ... lernen, aber auch in der Art, daß die Leute nicht aus den Dörfern weglaufen, sondern hübsch da bleiben."
[Gerne würde ich noch etwas zu den tatsächlichen Umständen des Bürgertums im 19. Jh. und zu den Bedingungen der antibürgerlichen Bewegung des jungen Bürgertums um 1900 schreiben, allein, ich muss dringend packen und morgen verreisen. Vielleicht gelingt es mir von unterwegs.]
Ich schließe aber nicht ohne die Bemerkung über den satirischen Satz:
"Die Gesellschaft, die keine Klassenunterschiede mehr kennt, die das Proletariat aufsaugt und zu Bürgern macht. Das ist die Kernidee".
Dass das revolutionäre Proletariat darauf nicht gekommen ist: sich zur Beseitigung aller Klassenunterschiede vom Bürgertum aufsaugen zu lassen, statt dieses wegpusten zu wollen!
Kommunismus könnte doch so einfach sein!
"19:16 - oranier hat gerade einen Kommentar geschrieben."
Und wo ist der, bitteschön, geblieben?
Das passiert hier des öfteren. Mitunter werden mehrere Kommentare im Logbuch angezeigt, die im Blogbeitrag selbst dann aber nicht zu finden sind.
Erst wenn man dann einen weiteren Kommentar postet, erscheint dann der ursprüngliche. So hab ich das mal nen halben Abend machen müssen.
Errata corrige
"Im 18. Jahrhundert war die Vorstellung, dass man einer gemeinsamen Bildungsschicht angehörte und in diese mit seiner Leistung immer aufsteigen konnte, eine feste Überzeugung."
@ Titta
Erscheint denn mein ursprünglicher Kommentar wenigstens für andere? So etwas schreibe ich nicht in drei Minuten. Bei mir erscheinen weiterhin beim Aufruf des Artikels keine Kommentare. Ich kann doch nicht jedesmal einen eigenen neuen schreiben, um neue Kommentare lesen zu können. Was für Experten sind denn hier überhaupt am Werk?
Ich versuchs mal wieder mit einem Kommentar, denn inzwischen sind auch meine beiden letzten Kommentar erneut verschwunden.
Hallo oranier,
nach dem Posten meines Kommentares erscheinen jetzt alle Kommentare bis 20:01 Uhr.
Zuvor waren nur deine beiden ersten Kommentare zu sehen. Meine und deine übrigen waren unsichtbar.
Wenn ich dann diese Seite verlasse, werden danach vermutlich wieder ein paar der bereits geposteten Kommentare nicht mehr aufrufbar sein. Zuvor was es so, daß dein letzter Kommentar zwar im Logbuch erschien, sich aber nicht aufrufen ließ.
Gute Frage: Was heißt heute bürgerlich und was meinen eigentlich CDU und FDP, wenn sie sich als das bürgerliche Lager bezeichnen?
Ich bin dafür, den Begriff ”bürgerlich“ ersatzlos aus dem politischen Vokabular zu streichen. Wir sind heute alle Bürger, Staatsbürger, die sich ausschließlich durch die Art, wie sie ihren Lebensunterhalt verdienen, unterscheiden. Professor Gall sagt selbst, es sei die Grundidee des Bürgertums, dass es schrittweise zum allgemeinen Stand werde – dieser Zustand ist im beginnenden 21. Jahrhundert erreicht. Ich behaupte nicht, dass wir in Deutschland keine Klassenunterschiede haben – aber diese sind keine Standesunterschiede, und es gibt arme Bürger ebenso wie reiche.
Darüber hinaus – siehe die Freitagsfrage dieser Woche – definiert sich zumindest die CDU immer noch als Volkspartei – das heißt, sie hat den Anspruch, alle Schichten der deutschen Bevölkerung zu repräsentieren.
Der letzte Satz des Interviews mit Professor Lothar Gall, in dem Rathenau Senior zitiert wird, ist der Schlüssel zum Bürgertumsbegriff: ”Ich brauche doch keinen Adelstitel. Ich bin ein erfolgreicher Bürger“.
Die ewige Verspätung aller sozialen Bewegungen und Umwälzungen im Deutschland des 18. und 19. Jahrhunderts hatte zur Folge, dass wir keine unterschiedlichen Begriffe herausgebildet haben für den Bürger im Sinne des Bourgeois, der im nachrevolutionären Frankreich die neue Oberschicht bildete, und des egalitären Citoyen, des Staatsbürgers, der ungeachtet der Art, wie er seinen Lebensunterhalt verdient, gleichberechtigt die Geschicke des Gemeinwesens mitbestimmt.
Bei uns blieben die Bürger bis zum ersten Weltkrieg und darüber hinaus definiert als nicht dem Adel angehörig, d.h. ohne Zugang zu dessen Privilegien, und seit der Mitte des 19. Jahrhunderts auch in Abgrenzung zur Arbeiterbewegung/den Proletariern. Es war also ein durch und durch ständischer Begriff, wie auch der deutsche Staat bis in die Weimarer Republik hinein ein Ständestaat geblieben ist.
Im frühen 19. Jahrhundert war Deutschland nicht geeint, weil es von unzähligen Kleinpotentaten regiert wurde, und für das revolutionäre Bürgertum jener Zeit war die Entmachtung dieser feudalen Oberschicht die Grundvoraussetzung für die nationale Einheit gewesen. Begriffe wie ”gutbürgerlich“ und ”auf gut Deutsch“ waren zunächst Kampfbegriffe des deutschen Bürgertums gegenüber einem französisch radebrechenden Adel, der sich auch in allen Dingen der Lebensgestaltung an ausländischen – meistens französischen – Vorgaben orientierte.
Als dann die nationale Einheit durch die Bismarck’sche Bündnis- und Kriegspolitik erreicht war, hatte sich der Führungsanspruch des Bildungs- und Besitzbürgertums noch nicht gegenüber den Eliten der ständischen Ordnung behauptet, als er bereits wieder von unten durch die erstarkende Arbeiterbewegung in Frage gestellt wurde. Auf diesen Druck reagierte das Bürgertum mit Abwehr nach unten und mit dem Versuch, sich dem Adel, den es einmal bekämpft hatte, anzugleichen, bzw. dessen Privilegien auf sich auszudehnen. Hier muss man zwischen Bildungs- und Besitzbürgertum unterscheiden – das Erstere spürte die politische Irrelevanz besonders stark und nahm den Gründerkrach von 1873 (noch so eine folgenschwere Wirtschaftskrise !!) zum Anlass, vorindustriellen Werten in romantischer und bald auch nationalistischer Verbrämung zu huldigen.
Die sozialistische Polemik richtete sich seit dem späten 19. Jahrhundert kaum gegen den Adel, sondern immer nur gegen die Bürger – die Ausbeuter der Arbeiter, herrisch ihren Untergebenen gegenüber und kriecherisch gegenüber der (feudalistisch geprägten) Obrigkeit.
Ich verstehe den Begriff der Bürgerlichkeit bei CDU und FDP als Abgrenzung gegenüber dem sozialistischen Lager, als späten Nachklang der Debatten der Sechziger und Siebziger, als jeder Missstand hinlänglich denunziert war, wenn man ihn nur als typisch für die bürgerliche Gesellschaft bezeichnete.