A
Avatar Im Netz wird heute selbst der größte Nerd zum Prinzen – im Rollenspiel oder auf Datingportalen. Im Schutz der Anonymität kann sich jeder zahllose Avatare, also fiktive Figuren, schaffen. Wem früher das Pausenbrot geklaut wurde (➝ Kränkung), wer in der Kantine immer allein sitzt, der vermag sich nun in den Weiten des Internets als Held zu generieren. Die Optimisten finden solcherlei Maskeraden dufte: Aus dem Spiel im virtuellen Rahmen sollen gehemmte Zeitgenossen gestärkt für Begegnungen in der Realität hervorgehen. Die Pessimisten befürchten hingegen einen Wirklichkeitsverlust. Wie dem auch sei: Das Ich des Homo cyber ist stets im Plural zu denken. Wenn da mal eines von vielen Selbst(-anteilen) im digitalen Strudel abhanden kommt, mag der Einzelne das verkraften. Man muss bei so vielen Avatar-, Zweit- und Viertexistenzen eben nur den Überblick bewahren. Björn Hayer
B
Bewusstsein „Ich habe Gehirn scheibliert und nirgends ein Ich gefunden“, meinte ein Hirnforscher einmal sinngemäß. Der Philosoph würde antworten: „Klassischer Kategoriefehler.“ Wirklich weiter ist seine Wissenschaft auch nicht. Die Suche nach dem Bewusstsein beunruhigt die Philosophie in vielerlei Gestalten, zum Beispiel als Rätsel vom Sitz der Seele (➝ Zuhause). Das von René Descartes zuerst klar formulierte Körper-Geist-Problem versucht, den Zusammenhang von mentalen und physischen Zuständen herzustellen. Daran hängt die Frage, wie das menschliche Bewusstsein auf eine materielle Welt einwirken kann. Laut Descartes passiert das „irgendwie“ über die Zirbeldrüse. Wenig befriedigend – spätere Denker reduzierten den Menschen daher allein auf die Materie und killten die Möglichkeit eines freien Willens gleich mit. Abschließend wird die Frage nicht zu klären sein, Philosophie ist immer wieder neu gestellte Selbstvergewisserung. Vorläufig mag Wittgensteins Diktum gelten: „Das Ich ist kein Gegenstand.“ Tobias Prüwer
E
Eitelkeit Selfies vor dem ➝ Spiegel, Selfies in der Umkleide. Das eigene, breit grinsende Antlitz vor Kunstwerken und hinter hübsch hergerichteten Tellerchen: Wer sich gerne und häufig für Social Media ablichtet, dem unterstellt man gerne Narzissmus. Dabei gibt es keinen Grund, die digitale Eitelkeit zu pathologisieren. Im Gegenteil. Der mythologische Narziss scheiterte bekanntermaßen daran, sich selbst zu erkennen (➝ Wikipedia).
Woran das lag? Er besaß weder Smartphone noch Selfiestick. Weil ihm der Tümpel nur das verzerrte eigene Antlitz spiegelte, blieb ihm die entscheidende Erkenntnis bis zum Schluss verborgen: Er hatte sich in sich selbst verliebt. Auf die verspätete Selbsterkenntnis folgte Betrübnis bis zum Tode. Sich selbst permanent und unablässig abzulichten, verhütet demnach nicht nur Ego-Demenz. Das Selfie ermöglicht dem Homo ludens auch die kreative Selbstinszenierung, nach der er so sehr dürstet. Der Mensch spielt eben nur dort, wo er ganz und gar Mensch sein darf. Und durchspielt in der Wieder- und Wiederholung der Selbstbetrachtung im Kameraspiegel die allererste Ganzheitserfahrung. So ist das Selfie-Grinsen nichts anderes als der Nachhall der Erinnerung an seine erste jubilatorische Geste. Marlen Hobrack
F
Falsche Bescheidenheit Der beinahe ewige Altkanzler Schmidt inszenierte sich als jemand, der mit „Anstand“ sein Leben führt. Die legendäre hanseatische Bescheidenheit würdigte Angela Merkel posthum. Die jahrelang unter dem Zeit-Mitherausgeber schreibende Edelfeder Fritz J. Raddatz sah das anders: „Schmidt ist ein Bescheidenheitsprotz, der öffentlich Erbsensuppe predigt und heimlich Subventionswein trinkt“, sagte er der FAZ. Falsche Bescheidenheit lehnte Raddatz ab; in der Tat zeigt er sich in seinen Tagebüchern entwaffnend unbescheiden (➝ Trump): Wie soll man bloß speisen, wenn auf dem Tisch die Messerbänkchen fehlen? Raddatz zelebrierte die großbürgerlichen Rituale, Schmidt hingegen die „Rituale des Antiritualismus“ (Hans-Georg Soeffner), durch die der große Staatsmann sich in den Mann von nebenan verwandeln wollte. Wolfgang M. Schmitt
G
Gegenüber Das 20. Jahrhundert kann man als eine Bewegung hin zur Innerlichkeit begreifen, die im Wien des späten 19. Jahrhunderts ihren Ausgang nahm und in der Sackgasse des Ichs endete. Einen vorläufigen Höhepunkt dieser Entwicklung stellen die Achtsamkeitsübungen dar – Tranquilizer der Gegenwart. Der weitverbreitete Glaube, man müsse zunächst sich selbst kennen- und lieben lernen, bevor man sich auf das Gegenüber einlassen könne, ist ein in dieser Tradition stehender Irrtum. Es verhält sich naturgemäß genau andersherum. Tilman Ezra Mühlenberg
K
Kränkung Drei große Kränkungen hat der Mensch hinnehmen müssen, glaubt man Couch-Potatoe Freud. In der kosmologischen Kränkung rückte ihn Kopernikus aus dem Zentrum des Alls, Darwin stutzte ihn von der Krone der Schöpfung zum Affen-Nachkommen. Freud selbst fügte ihm die psychologische Kränkung zu, mit der Theorie vom Unbewussten war er nicht länger Herr seiner Sinne. Eine vierte Schmach müsste man heute hinzufügen und mit dem Philosophen Günther Anders prometheische Scham nennen. In dieser technologischen Kränkung erfährt sich der Mensch im ➝ Spiegel seiner Maschinen, anhand von künstlicher Intelligenz, Robotik und dergleichen, als unperfekt, irrend, fehleranfällig. Die nächste Kränkung kommt bestimmt. Tobias Prüwer
M
Marlene Dietrich Diven haben zwei Körper – einen idealen und einen sterblichen. Letzterer gefährdet Ersteren, weshalb Marlene Dietrich ihren mehr als 15 Jahre währenden Lebensabend allein in ihrer Pariser Matratzengruft verbrachte, um das Leinwandideal nicht zu beschädigen. Folglich erscheint sie in Maximilian Schells Dokumentarfilm Marlene nicht im Bild, lediglich ein Tonband durfte Schell bei seinen Interviews mitlaufen lassen. Nichts wäre falscher, als dieses Gebaren ➝ eitel zu nennen. Vielmehr unterwarf sich die Dietrich ganz und gar ihrer öffentlichen Rolle, die Indiskretionen wie körperliche Verfallserscheinungen nicht zulässt. Von Schell gefragt, ob sie die diversen Biografien über sich gelesen habe, antwortet sie völlig konsequent: „Ich gehe mich einen Dreck an!“ Mit dem Satz streicht sie zwar den tatsächlich eitlen Individualitäts- und Intimitätskult durch, doch keineswegs ihre wahre Identität. Diese offenbart sich gerade hier in all ihrer Unerbittlichkeit: Sie war eben Preußin. Durch und durch. Wolfgang M. Schmitt
S
Spiegel Lange hatten die Menschen nur einen vagen Eindruck vom eigenen Aussehen. Mehr als die Spiegelung in einem Brunnen oder Teich war nicht drin, später vielleicht das verzerrte Antlitz in der Klinge eines Schwertes. Selbstwahrnehmung entstand durch Fremdwahrnehmung.
Erst mit dem Aufkommen des Spiegels, zuerst nur für Adlige und Kleriker, bekam das Ego, das es seit jeher zu verteidigen oder zu zelebrieren galt, ein Gesicht. Und je mehr Spiegel im Alltag, desto neurotischer ist der Umgang damit geworden. Mittlerweile hat sich die Egozentrik in einem Spiegelkabinett verirrt. Ob einfältige Ich-Begeisterung (➝ Eitelkeit) oder krankhafte Selbstverleugnung; mit dem Spiegel ist eine ganze Industrie entstanden, die davon lebt, den manipulierten äußeren Anschein mit dem Ego zu koppeln. Eine neue Form von Selbstwert, die sich grundlegend von früheren Identitätsangeboten wie Stolz, Gemeinsinn oder Mut verabschiedet, hat von uns Besitz ergriffen. Das Päckchen ist leer. Aber das hübsche Papier, in das es gewickelt ist, ist das Geschenk. Marc Ottiker
T
Trump Trotz eines großen Egos und einer guten Portion Ehrgeiz hat Donald Trump auch ein Jahr nach Beginn seiner Präsidentschaft noch immer keinen Preis verliehen bekommen. Das ist bedauerlich, denn bei anderen bedeutenden Persönlichkeiten und Staatsmännern ging das wesentlich schneller, und damit hatte gewiss auch Donald Trump gerechnet, als er sich dereinst dazu bereit erklärte, Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika zu werden. Sein Vorgänger Barack Obama beispielsweise musste nur wenige Tage nach seiner Wahl eine folgenlose Grundsatzrede zur Lage des Islam halten und gewann den Friedensnobelpreis, Frankreichs Präsident Emmanuel Macron reichte es bereits, bei seiner Amtseinführung Beethovens Ode an die Freude laufen zu lassen, um von der Stadt Aachen mit dem Karlspreis für Verdienste um Europa ausgezeichnet zu werden.
Da schäumt das Ego verständlicherweise (➝ Falsche Bescheidenheit), doch sollte er gerade jetzt nicht an sich zweifeln. Schließlich erhielten Mutter Teresa und die birmanische Menschenrechtlerin Aung San Suu Kyi ihre Auszeichnungen auch nicht gleich zu Beginn ihrer Karrieren, und auf eine Selig- und oder Heiligsprechung muss selbst Donald Trump leider noch bis zu der Zeit nach seinem Tod warten. Die Hoffnung stirbt immer zuletzt. Timon Karl Kaleyta
W
Wikipedia Wikipedia, uralter Menschheitstraum, das Wissen der Welt! Pffft, nicht mit mir. Ich gebe meinen Nachnamen ein und finde höchstens diesen Onkel da, den Zeichner, nicht mich. Da muss ich dem Weltgeist aber mal Kenntnisse einjagen! Melde mich als Wiki-Autor an. Fachwissen habe ich ja mehr, als mir lieb ist. Lege dann einen Artikel an über diesen Ungerer-Typen – Skandal, dass das nicht längst wer tat! (In den Öffentlichkeitsabteilungen meiner Verlage sitzen sie derweil und werfen um die Wette Teebeutel an die Decke.) Der Artikel wird gut. In dieser nüchternen Darstellung liest sich meine Vita eher noch imposanter. Wo ich überall schon war, hach! All die untergegangenen Periodika, die übersehenen Bücher mit verheißungsvollen Titeln! Unzweifelhaft umgibt mich ein Glamour.
Hups. Kaum wird der Artikel freigegeben, bekomme ich Mail von der Weltmaschine: Ich Nutzer trüge den Namen einer bekannten Persönlichkeit (➝ Marlene Dietrich). Was das denn jetzt bedeuten solle. Ich maile also klarifizierend zurück: Hiermit bestätige ich, dass ich ich bin. Da mein guter Name wie Donnerhall klingt, glauben sie mir. Klaus Ungerer
Z
Zuhause Ich sehe mir hin und wieder die fabelhaften Penthouse-Angebote der New Yorker Immobilienmakler an. Was für ein Ego braucht es, um in solchen Kulissen zu wohnen? Ist der Mensch im eigenen Zuhause „zu Hause“, mehr „bei sich“ (➝ Bewusstsein) als anderswo? Oder kann er sich da noch besser entkommen? Die eigenen vier Wände – in Zeiten der Ikea-Werbung vom Wohnen oder Leben – auch nichts anderes als Hintergrund der Selbstinszenierung? Kein Rückzugsort mehr, sondern „Ladestation“ für neue Ich-Erfindungen? Fakt ist: Wer kein Zuhause mehr hat, dessen Identität kommt ins Schlingern. Der hat andere Fragen, sucht nicht nach seinem Ego, sondern einen Unterschlupf. Magda Geisler
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