Ehemalige Brot-für-die-Welt-Chefin: „Staatenlose leben im Untergrund“

Global Assembly Cornelia Füllkrug-Weitzel bekämpft ein unsichtbares Problem: Staatenlosigkeit. Sogar Beerdigungen werden Menschen ohne Ausweispapiere verwehrt. Wie kann man Leuten ohne Papiere und Hoffnung helfen?
Ausgabe 18/2023
Ist ein Leben ohne Ausweispapiere möglich?
Ist ein Leben ohne Ausweispapiere möglich?

Grafik: Dorothee Waldenmaier

Bertolt Brecht wusste: „Der Pass ist der edelste Teil von einem Menschen.“ Wie ist ein Leben ohne Ausweispapiere überhaupt möglich? Staatenlose können ein Lied davon singen. Cornelia Füllkrug-Weitzel weiß, warum ihre Zahl zunimmt.

der Freitag: Frau Füllkrug-Weitzel, Sie waren bis 2021 Präsidentin von Brot für die Welt und der Diakonie Katastrophenhilfe. Kommt man da viel mit Staatenlosen in Berührung?

Cornelia Füllkrug-Weitzel: Man kann damit zu tun haben, wenn man humanitäre Hilfe leistet. Das mit der Berührung ist so eine Sache: Ich glaube, niemand von uns kennt Staatenlose persönlich aus seinem Umfeld.

Warum?

Weil die meisten von denen sich unsichtbar machen. Sie könnten ja sofort verhaftet werden, wenn sie aus der Deckung kämen.

Nach der UN-Menschenrechtserklärung von 1948 hat jeder das Recht auf Staatsangehörigkeit.

Genau. Staatenlosigkeit bedeutet, dass Menschen jede Form von Citizenship verwehrt wird – und zwar trotz und entgegen internationalem Recht. Staaten haben nach dem Völkerrecht nämlich auch das souveräne Recht, Bedingungen und Regeln für deren Erwerb oder Verlust zu bestimmen. Das hebelt dieses grundlegende Menschenrecht aus, an dem aber die Gewährleistung aller anderen Grund- und Menschenrechte hängt.

Wie wird man staatenlos?

Es gibt zwei Hauptgründe. Erstens: Die Regierung entzieht einem die Staatsbürgerschaft. Entweder, weil man zu einer Minderheit gehört, die aus einem bestimmten Grund nicht mehr beliebt ist ...

Religion, Sprache, Ethnie?

Ja. Und der zweite Grund ist, dass sich Staaten auflösen – denken Sie etwa an die UdSSR, an die ČSSR oder an Jugoslawien, die Anfang der 90er Jahre untergegangen sind. Es gibt viele individuelle Umstände, die dazu führen, dass Menschen dabei ihre Staatsangehörigkeit verlieren.

Erinnern Sie sich mal an die Geflüchteten, die 2015 vor der deutschen Grenze ihre Pässe verbrannt oder im Klo runtergepült haben, um ihre Chance auf Asyl zu erhöhen. Waren die danach staatenlos?

Nein, da denken Sie in die ganz falsche Richtung! Staatenlosigkeit bedeutet, dass jemand keine Beziehung mehr zu irgendeinem Staat hat. Wer seinen Pass wegwirft, verliert aber nicht automatisch die Bindung zu seinem Heimatstaat. Da sind immer noch Dokumente hinterlegt, die seine Identität beweisen.

Nennen Sie mal Beispiele, wo Gruppen staatenlos wurden.

Lettland, 1994: Da wurde der gesamten russischstämmigen Bevölkerung, circa einer halben Million Menschen, die Staatsbürgerschaft entzogen. Russen waren als Bürger nicht mehr willkommen. Auch ein Großteil der Kinder, die nach 2014 auf der Krim geboren wurden, ist staatenlos.

2014 hat der UNHCR die „IBelong-Campaign“ gestartet, um den damals zehn Millionen Staatenlosen zu einer Einbürgerung zu verhelfen. War das erfolgreich?

Nein. Die Kampagne war auf zehn Jahre angelegt. Die sind bald rum. Aber die Zahl ist seither sogar gewachsen. Man geht davon aus, dass es heute weltweit ungefähr 15 Millionen Staatenlose gibt.

Warum ist die Zahl gestiegen?

Ein Beispiel: 2015 wurden die Rohingya aus Myanmar abgeschoben, haben aber vom Aufnahmeland Bangladesch nie die Staatsbürgerschaft bekommen. Jetzt sitzen die Menschen im vermutlich größten Flüchtlingslager der Welt. Wenn nichts Wesentliches passiert, wenn Bangladesch sich nicht rührt, könnten die für den Rest ihres Lebens da festhängen.

In Indien droht gerade fast zwei Millionen Menschen der Entzug ihrer Staatsbürgerschaft. Wieso?

Die hindunationalistische Regierung treibt die Hinduisierung des Landes voran. Sie haben in Assam und in Orissa vermutlich 1,5 Millionen Muslimen und Bengalen den Entzug der Staatsbürgerschaft angedroht, die sie über Generationen hatten. Nach dem Motto: Ihr seid nicht unsere Mitbürger.

Was bedeutet es im Alltag, staatenlos zu sein? Also konkret?

Man hat kein Personaldokument. Das wiederum ist Voraussetzung für, ja – schier alles! Folglich kann man seine Kinder nicht in der Schule registrieren, keine Geburten anmelden, nicht heiraten und hat keinen Zugang zum Gesundheitssystem. Ach, da gibt es aber noch so vieles, über das wir sprechen könnten.

Nur zu!

Versicherung abschließen? Ein Konto eröffnen? Besitz erben oder erwerben? Vergessen Sie es! Ich kenne einen Fall aus Brasilien, wo ein staatenloser Syrer nicht beerdigt werden konnte, weil er offiziell nicht existierte. Und wer nicht existiert, kann auch nicht sterben. Solche Menschen kann man auch leicht ermorden oder als Sex- oder Arbeitssklaven missbrauchen.

Sind Frauen anders betroffen von Staatenlosigkeit als Männer?

Es gibt eine Gender-Komponente. In 25 Ländern ist es Frauen nicht erlaubt, ihre Staatsbürgerschaft an ihre Kinder zu vererben. Das heißt, wenn der Vater unbekannt ist, wenn er vor der Geburt stirbt oder auf der Flucht von der Familie getrennt wird, werden die Kinder automatisch zu Staatenlosen – und bleiben es meist ein Leben lang.

Wie ist die Lage in Deutschland?

Die Datenlage ist kompliziert: Deutschland hat – entgegen europäischen Beschlüssen – keine klaren Prozeduren zur Identifikation und statistischen Erfassung der Staatenlosen. Dabei wäre das eine Voraussetzung dafür, das Problem zu überwinden: Ich kann ja nur Leute unterstützen und einbürgern, die ich auch kenne. 2019 hat der UNHCR geschätzt, dass es ungefähr 13.450 Staatenlose hierzulande gibt. Mittlerweile geht man sogar von 100.000 aus.

Das ist ein krasser Anstieg für einen so kurzen Zeitraum.

Ja. Das hat unter anderem mit den ukrainischen Kriegsflüchtlingen zu tun. In der Ukraine haben sich Flüchtlinge und Migrantinnen aufgehalten, die schon staatenlos in die Ukraine gelangten, aber irgendwie einen legalen Status dort bekamen. Als sie das Land verlassen mussten, haben sie diesen Status verloren. Der Krieg hat auch alle Neugeborenen in nicht von der Regierung kontrollierten Gebieten staatenlos gemacht.

Welche Rolle wird das Thema auf der „Global Assembly“ spielen?

Wir werden dort einen hervorragenden Vertreter der Staatenlosenbewegung dabei haben: Amal de Chickera.

Dessen „Institute of Statelessness and Inclusion“ kämpft gegen Staatenlosigkeit. Man könnte auch sagen: Es kämpft für das Recht auf einen Nationalstaat. Klingt schon weniger progressiv.

Da muss ich jetzt etwas lachen, wenn Sie das Recht auf eine Staatsbürgerschaft in die Nähe von Nationalismus rücken.

Wieso müssen Sie da lachen?

Weil Staatsangehörigkeit historisch nicht darauf angewiesen ist, von einer Nation verliehen zu werden. Seit 1871 gibt es in Deutschland eine deutsche Staatsbürgerschaft. Interessanterweise wurde die aber bis 1934 nicht vom Nationalstaat verliehen – das wurde erst von den Nazis eingeführt –, sondern von den Ländern, also von Preußen, Bayern und so weiter. Hypothetisch denkbar also, dass sie von einer sub- oder einer supranationalen Entität begründet wird und jedem Menschen offen steht. Sie könnte dann nicht von einem Nationalstaat willkürlich entzogen werden.

Eine Vision, über die Sie auf der Global Assembly nachdenken?

Bestimmt. Wir werden über Wege zu weltbürgerlichen Verhältnissen nachdenken, die Individuen und Gruppen ihre Menschenrechte jenseits staatlicher Grenzen sichern. Es kann nicht sein, dass Menschen rechtlos zwischen Staaten hängen wie zwischen Tür und Angel. Weil Staaten sie loswerden wollen. Oder weil sie keine Überlebenschancen in ihrer Heimat mehr haben – Stichwort Klimaflüchtlinge. Gelten Menschenrechte aber universal, dann können Grundrechte nicht nur jenen zukommen, die einem Gemeinwesen angehören, das ihre Rechte schützt und das keine irreversiblen Schäden und Verluste durch den Klimawandel erleidet.

Gibt es Länder, die das Problem gut in den Griff bekommen?

Georgien ist ein Positivbeispiel. Tiflis hat die „IBelong-Kampagne“ 2014 zum Anlass genommen, Staatenlosigkeit systematisch anzugehen. Sie haben weitgehend alle Staatenlosen eingebürgert.

Wie haben die das gemacht?

Das zu beantworten, bräuchte noch mal ein Interview. Nur so viel: Der UNHCR hat ein einfaches Toolkit entwickelt. Mit dessen Hilfe kann jeder Staat, wenn er gewillt ist, das Problem zu lösen, das tun.

Cornelia Füllkrug-Weitzel, 67, ist eine evangelische Pfarrerin. Bis 2021 war sie Präsidentin von Brot für die Welt sowie der Diakonie Katastrophenhilfe. Füllkrug-Weizel gehört dem Initiativkreis zur Vorbereitung der „Global Assembly“ an

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