Nahaufnahme Zuerst Gefängnis, dann Boot Camp, schließlich schickt ihn sein Vater von Los Angeles nach Hessen. Doch Ruhe findet Carlos dort ebenfalls nicht
Carlos kommt 1986 in einer hessischen Kleinstadt zur Welt. Als Sohn eines Hispano-Amerikaners, der als Mitglied der US-Army hier stationiert ist, und einer deutschen Mutter. Die beiden haben sich ein Jahr zuvor in einer Bar kennengelernt und sind bald darauf zusammengezogen. Als Carlos acht Monate alt ist, endet die Dienstzeit des Vaters in der Bundesrepublik, und die Familie siedelt in die USA über. Schnell kommen dort zwei Brüder von Carlos zur Welt.
Anfang der neunziger Jahre lernt der Vater eine andere Frau kennen und verlässt die Familie. Die Mutter kehrt mit den zwei jüngeren Brüdern nach Deutschland zurück, Carlos bleibt bei seinem Vater, zu dem er eine engere Verbindung hat. Wenig später ziehen die beiden nach Los Angeles. Der Vater hat vier Jobs u
ier Jobs und deswegen wenig Zeit für den Sohn, dessen Leben mehr und mehr auf der Straße stattfindet – dem Terrain der Gangs, die sich die Stadt aufgeteilt haben und untereinander blutig bekriegen. Die berühmtesten und größten Gangs sind die Bloods und die Crips, aber es gibt Dutzende, wenn nicht Hunderte von ihnen, die meist entlang ethnischer und territorialer Grenzen organisiert sind. Im County Los Angeles sollen mehr als 100.000 Jugendliche Gangs angehören.Carlos schließt sich im Alter von neun Jahren einer mexikanischen Gang an, deren Territorium das Ghetto von East Los Angeles ist, wo sein Vater wohnt. Die Schule besucht er nur noch sporadisch. Wenn er mal hingeht, dann nur, um Freunde zu treffen und „irgendwas zu checken“. Keiner schert sich darum. Ein älterer Cousin hat für ihn gebürgt und ihn in die Gang eingeführt, die aus ungefähr 20 Leuten besteht. Er ist der Jüngste und muss sich zunächst als kleiner Drogenmischer und Dealer betätigen, klauen und Schmiere stehen, wenn die Älteren ihre „richtigen Dinger drehen“. Sie begehen Einbrüche und Überfälle, verkaufen Drogen, leben von Straßenraub und Erpressung. Alle Gangmitglieder tragen Knarren im Hosenbund und machen im Notfall auch Gebrauch davon.Der Vater gibt ihm einen Brief. Im Flugzeug reißt er ihn aufWas er selbst mit der Knarre angerichtet hat, darüber möchte Carlos nicht reden. Es gebe Dinge, die seien zu heftig, die habe er sich bemüht zu verdrängen und zu vergessen. Irgendwann wird er mit Kokain in der Jackentasche geschnappt. Man überführt ihn noch diverser anderer Straftaten, und er soll als 12-Jähriger für sieben Jahre ins Gefängnis. Der Anwalt seines Vaters setzt durch, dass seine Strafe nach drei Monaten Knast in einen sechsmonatigen Aufenthalt in einem Boot Camp ungewandelt wird. Eigentlich sind Boot Camps Ausbildungslager für Marines, die Elitesoldaten der US-Navy. Weil aber jugendlichen Straftätern nicht schaden kann, was den Boys an der Front guttut, wurden nach diesem Vorbild seit 1983 auch Camps für jugendliche Straftäter eingerichtet.In Boot Camps wird mit militärischem Drill und purer Härte gegen die delinquenten Neigungen der Kinder und Jugendlichen vorgegangen. Es sind Gefangenenlager für aufsässige Teenager, die dort einer rabiaten Umerziehung unterzogen werden: Isolierstation, Prügel, körperliche Strapazen, unablässige Demütigungen und lautes Anbrüllen. Der Zweck: die Zöglinge ihrer bisherigen Identität zu berauben, ihre schädlichen Neigungen auszumerzen, sie in Angst und Schrecken zu versetzen. Die aufflackernde Panik wird in Unterwerfung unter das Regime des Lagers umgemünzt. In hartnäckigen Fällen dauert das Umpolen zwei Jahre, mindestens bleibt man aber sechs bis acht Monate im Camp. Gut 40 Todesfälle sind dokumentiert. Die Jugendlichen starben an den Folgen von körperlichen Misshandlungen, schlechter Ernährung und Vernachlässigung.Carlos lässt das Camp über sich ergehen. Da die rund 60 Zöglinge hier beinahe noch Kinder sind, ist das Personal etwas behutsamer und weniger brutal. Carlos hat bereits viel hinter sich und weiß, dass er diese sechs Monate überstehen wird. Mit Härte ist ihm nicht beizukommen. Er ist sich absolut sicher, dass niemand härter ist als er selbst, dass er jede Strafe aushalten kann. Den Wettlauf um Härte können die anderen nicht gewinnen. Natürlich ist es kein Vergnügen, morgens um 5 Uhr aus dem Bett gescheucht zu werden, 20 Runden joggen und dann zum Flaggenappell antreten zu müssen, bevor es endlich Frühstück gibt. Den Rest des Tages wird man verspottet, angeschrien und gedemütigt: „Du bist ein elendes Stück Scheiße!“ Carlos muss gelegentlich in der Ecke stehen und im Stehen essen. Er ist nicht so dumm, offen zu rebellieren und mit dem Kopf gegen die Wand zu rennen. Er unterwirft sich äußerlich, errichtet eine angepasste Fassade, hinter der er sich verbirgt: „Ich werde hier nicht gebrochen, ich werde es hinter mich bringen und weitermachen wie bisher. Den Triumph, mich umzupolen, werde ich euch Schweinen nicht gönnen.“Nach sechs Monaten wird er entlassen und kehrt zum Vater zurück. Während Carlos im Knast und im Boot Camp war, sind vier seiner Freunde aus der Gang bei Auseinandersetzungen mit rivalisierenden Gangs erschossen worden. Der Vater, der nicht möchte, dass seinem Sohn eines Tages dasselbe widerfährt, schickt ihn zur Mutter nach Deutschland. Er lässt Carlos zunächst in dem Glauben, es sei nur für die Ferien. Er gibt ihm einen Brief für die Mutter mit. Carlos wundert sich zunächst, weil der Vater auf seine gelegentlichen Nachfragen, was denn aus seiner Mutter geworden sei, diese für tot erklärt hatte. Nun ist sie plötzlich wieder auferstanden, und er soll sie besuchen. Im Flugzeug öffnet er den Brief. „Nimm den Jungen zu Dir“, liest er, „hier endet er im Knast oder wird über kurz oder lang erschossen. Behalt ihn bei Dir und lass ihn in Deutschland zur Schule gehen und einen Beruf erlernen.“Er fühlt sich vom Vater verraten und verkauft, zutiefst enttäuscht. Er ist wütend. Aber es gibt kein Zurück mehr. Heute weiß er, dass der Vater ihm durch diesen „Verrat“ wahrscheinlich das Leben gerettet hat. Die Mutter holt ihn am Flughafen ab und ist selbst erstaunt über den Inhalt des Briefes. Auch sie war von einem Ferienaufenthalt ausgegangen und hat nun ihren ältesten Sohn zurück, der ihr fremd geworden ist. Die Mutter ist nach der Trennung von Carlos’ Vater und der Rückkehr aus den USA zu ihren Eltern zurückgekehrt und arbeitet als Sekretärin in der Firma ihres Vaters. Nach ein paar Wochen Ferien wird Carlos in die Schule geschickt. Er sitzt da, versteht kein Wort und sinnt auf Flucht. Er schwänzt die Schule und treibt sich rum. Das Jugendamt schreitet ein und verpflichtet ihn zur Teilnahme an einem Deutschkurs.Unterdessen sind sein Cousin und zwei Jungs aus der Gang aus Los Angeles ebenfalls nach Deutschland gekommen und haben sich in Frankfurt am Main niedergelassen. Carlos verlagert sein Leben dorthin, und sie setzen das Gang-Leben gemeinsam fort. Die Mutter wohnt der Verwahrlosung ihres ältesten Sohnes ohnmächtig bei. Ab und zu taucht er im Haus der Großeltern auf, isst sich satt, holt frische Wäsche und besucht für ein paar Tage die Schule. Dann verschwindet er wieder und lässt die Mutter im Unklaren, wohin er geht und was er treibt.Ihre Ermahnungen verhallen ungehört. Ganz genau will sie es aber wohl nicht wissen, denn wüsste sie es, müsste sie handeln und energischer einschreiten. Sie kennt diesen Jungen, der doch ihr Sohn ist, noch immer kaum. Er bleibt ihr fremd. Und auch er sagt, er habe „eine unsichtbare Mauer“ gegen die Mutter aufgebaut und habe sie nie wirklich näher an sich herangelassen.Der Name der neu gegründeten Gang wird aus den Anfangsbuchstaben der in Los Angeles „erschossenen Brüder“ gebildet. Im Vergleich zu den dortigen Verhältnissen empfinden die Jungs Deutschland als „kriminelles Paradies“, und einstweilen kommt ihnen niemand wirklich in die Quere. Sie sind Gangster und finden das „cool“. Sie begehen Überfälle, rauben Leute aus, verticken Drogen und konsumieren selbst. Carlos’ Droge ist und bleibt Marihuana, alles andere hat er höchstens mal probiert und dann wieder gelassen.Er will kein Opfer sein –und schlägt zurückDoch dann übertreiben die Jungen es und klauen von einem Lagergelände Tausende von Getränke-Kisten, die sie an Geschäftsleute weiterverkaufen. Die Polizei ermittelt Carlos als Täter, er wandert für ein Jahr ins Jugendgefängnis. Von dort aus geht er in eine Wohngemeinschaft für junge aus der Haft entlassene Straftäter. Die Unterbringung scheitert an Unklarheiten über die Finanzierung, und so kehrt Carlos schnell auf die Straße zurück.Ganze vier Wochen ist er draußen, da kommt es nachts unter Alkoholeinfluss zu einer Schlägerei mit anderen Jugendlichen. Carlos setzt sich gegen die Übermacht der anderen schließlich mit einem Messer zur Wehr. Die Polizei wird gerufen, kommt und nimmt ihn fest. Diesmal kommt er nicht so gnädig davon und erhält wegen gefährlicher Körperverletzung, Verstoßes gegen das Betäubungsmittelgesetz und diverser anderer Straftaten eine Gesamtfreiheitsstrafe von mehr als vier Jahren.Im Gefängnis beginnt Carlos eine Ausbildung zum Maler und Lackierer. Aber die Auseinandersetzungen unter den jungen Männern gehen weiter, und die Regeln der Straße behalten auch in den Gefängnissen und der Subkultur der Gefangenen ihre Gültigkeit. Es gibt einen Code, der festlegt, dass man bestimmte Beleidigungen nicht auf sich sitzen lassen kann und darf, weil man sonst zum „Opfer“ erklärt wird, den „Respekt“ einbüßt und „sein Gesicht verliert“. Man hat ihn beleidigt und also „muss“ Carlos zurückschlagen, „such is life“. In der Folge erhält er eine neuerliche Anzeige wegen Körperverletzung.Carlos wird aus dem Jugendgefängnis herausgenommen und in den Erwachsenenstrafvollzug verlegt. Dort ist er mit seinen inzwischen 22 Jahren einer der Jüngsten. Das riesige, alte Gefängnis beeindruckt ihn, und die feste Struktur und ruhige Abgeklärtheit der durchweg älteren Mithäftlinge bremst seine hektische und nervöse Umtriebigkeit aus. Er sei reifer und ruhiger geworden, stellt Carlos resümierend fest. Und er habe gelernt nachzudenken. Die Mutter besucht ihn im Gefängnis, und es entsteht ein ganz guter Kontakt, aber zu ihr ziehen möchte er nicht. Das würde nicht lange gut gehen. Dem Vater schreibt er hin und wieder einen Brief. Gesehen hat er ihn seit dem Abschied aus Los Angeles nicht mehr.„Ich will es wirklich versuchen, aber garantieren kann ich für nichts“, sagt Carlos heute mit Blick auf die Zeit nach seiner Entlassung. In seinem immer noch ein wenig unsicheren Deutsch mit dem leichten amerikanischen Akzent fügt er hinzu: „Es schaukelt noch.“ Eigentlich träumt Carlos, wie viele der Jungs im Gefängnis, von einem ganz normalen Leben. „Die Kinder spielen im Sandkasten, und die Frau schneidet die Rosen, wenn ich abends von der Arbeit nach Hause komme“, sagt Carlos mit einem Augenzwinkern.
×
Artikel verschenken
Mit einem Digital-Abo des Freitag können Sie pro Monat fünf Artikel verschenken.
Die Texte sind für die Beschenkten kostenlos.
Mehr Infos erhalten Sie
hier.
Aktuell sind Sie nicht eingeloggt.
Wenn Sie diesen Artikel verschenken wollen, müssen Sie sich entweder einloggen oder ein Digital-Abo abschließen.