Der Strand macht alle gleich, sagen die Brasilianer. Dort würde die soziale Distanz schmelzen. Die beiden braun gebrannten Jungs aus Sydney stehen mit Flipflops und Badeshorts vor dem Copacabana-Palace-Hotel, sie warten auf ihren Tour-Guide. Sie wollen eintauchen in eine Gegend, die in Rio sonst kaum einer sehen will: Die Rocinha, Rios größte Armensiedlung.
Reiseleiter Alfredo Souza, ein drahtiger Mittdreißiger mit Wanderstiefeln, wird sie, ein britisches Pärchen sowie acht weitere deutsche und australische Touristen durch den Stadtteil führen. In einem klimatisierten Kleinbus fahren sie in die Rocinha, mit über 100.000 Bewohnern die größte Favela Brasiliens. Der Bus zwängt sich durch den dichten Verkehr, vorbei an hohen, begrünten Maue
;nten Mauern teurer Villen und der amerikanischen Privatschule, die monatlich 3.000 Dollar Schulgebühren verlangt. „Hier erreicht der Lebensstandard skandinavisches Niveau“, erklärt Alfredo. Ein Ökonom habe ausgerechnet, dass die beiden Wohngebiete, Gavea und Rocinha, das reiche und das arme, in ihrer wirtschaftlichen Entwicklung 100 Jahre auseinander liegen.Die Serpentinen winden sich immer weiter nach oben, dann tauchen die ersten kastenförmigen Steinhäuser auf. Sie wirken so gestapelt wie Schuhkartons, mit je einem großen Wassertank und einer Satellitenschüssel auf dem Dach. Neben einigen glüht ein Müllberg in der Sonne und verbreitet süßlichen Gestank. „In den Favelas sind die Drogendealer die eigentlichen Machthaber“, erklärt Alfredo und bestätigt damit das bekannte Klischee. Sie lieferten sich oft Schießereien mit der Polizei. „Die ballert erst und stellt dann Fragen“, schimpft Alfredo. Marschieren die Spezialkommandos in die Favelas ein, sind oft Unbeteiligte die Opfer. Aber die Drogenbosse seien hier akzeptiert, sie würden den Bewohnern helfen: „Die Regierung tut das nicht.“ Was treibt Touristen hierher, wenn sie eigentlich unten am Strand liegen könnten? „Wir sind halt Abenteuertypen und finden so etwas aufregend“, antworten die muskelbepackten Australier, deren Kraushaar von der Sonne ausgeblichen ist.Elendsgeschichten laufen gutGeschichten vom Elend laufen gut, ob in Nachrichtensendungen oder in großen Filmen wie Slumdog Millionaire oder City of God. Sie ziehen die Menschen ins Kino und so wirkt es folgerichtig, dass man mittlerweile auch mit Reiseveranstaltern durch die Slums von Mumbai streifen, die Townships Südafrikas besichtigen oder Rios Favelas ansehen kann. Armut als Sensation? Die Reiseveranstalter, die von ihren Gewinnen nichts an die Armutsviertel weitergeben, stehen jedoch in der Kritik. Manche Touristen informieren sich daher im Vorfeld und wählen ihre Reiseagentur bewusst aus. „Favela Tour“ beispielsweise unterstützt eine Schule in der Favela, durch die sie die Touristen führt.Der Kleinbus windet sich immer höher den Berg hinauf, an der Hauptstraße reihen sich einfache Restaurants an neuevangelische Sektentempel. Dazwischen liegt eine Bank, die laut Alfredo noch nie ausgeraubt wurde. „In der Favela klaut niemand. Zwar ist die Verbrechensrate höher als in anderen Stadtteilen, aber dabei geht es immer nur um Drogen.“ Die Welt der Dealer funktioniere wie ein Staat im Staate, mit eigenen Gesetzen, die Polizisten abschrecken. Einer im Bus zückt seine Kamera: Keine Fotos, warnt Alfredo, die Bewohner der Favela würden es nicht mögen von Touristen abgelichtet zu werden. Bitte nur Landschaft.Alfredo zeigt auf eine steinerne Treppe, die den Hang hinauf führt. „Dort verkaufen die Dealer ihre Drogen“, sagt er. Im Moment sind sie allerdings unsichtbar. Sein Kollege Marcelo Armstrong, der Gründer von „Favela Tour“, hat 1992 die ersten Touristen durch die Rocinha geführt, seitdem kamen immer mehr. Sieben Agenturen schleusen nun monatlich 3.500 Besucher durch die Armutsviertel. Doch deren Bewohner sehen die Touristen als Chance: „Wir wollen ihnen ein anderes Bild vermitteln als das aus der Presse“, sagt Elisete Soares da Silva, eine Anwohnerin der Rocinha. Die Soziologin Bianca Freire-Medeiros fand heraus: „Die Leute wollen den Besuchern etwas Positives mitgeben, sie fühlen sich aufgewertet durch die Aufmerksamkeit“. Wenn die Touristen zurückkehren, würden sie etwas vielschichtiger über die Favela nachdenken, glaubt die Soziologin.Der Bus hält, am Straßenrand verkaufen die Leute Lampions aus Plastikflaschen oder bunte Ölbilder, auf denen die Häuser fröhlich aussehen. Es geht weiter den Berg hinauf, es sieht aus als klebten die Häuser aneinander, die privaten Räume sind kaum geschützt. „So haben wir uns die Favela vorgestellt“, raunen manche in der Gruppe. Ein farbiger Mann in Badeshorts und Flip-Flops huscht vorbei. „Good morning“, grüßt er die Touristen. Ein 25-Jähriger aus Manchester fragt, ob der Reiseveranstalter bewusst eine Vorzeige-Favela gewählt habe, in der es weniger Dealer und sogar einen McDonald’s gibt. „Nein“, ruft Alfredo resolut. „Aber ich würde für ein unverzerrteres Bild auch kein größeres Risiko eingehen!“Brasilianische Politiker scheitern seit Jahren daran, die Lage in den Griff zu kriegen, die Gewalt einzudämmen, die vor allem in der enormen sozialen Kluft des Landes wurzelt. Der brasilianische Süden ist teilweise so entwickelt wie eine westliche Industrienation, der Nordosten vegetiert vor sich hin.Nur in wenigen afrikanischen Ländern sind die Einkommen ungleicher verteilt als in Brasilien. Seit wenigen Monaten beginnt die Polizei, feste Stützpunkte in den Favelas zu errichten, um die Drogenbosse zu vertreiben. Auch die Rocinha soll besetzt werden, um dem Drogenhandel ein Ende zu bereiten. Favela-Touren gehören nun zum gewöhnlichen Rio-Tourismuspaket. Reiseunternehmer, die für Probleme sensibilisieren und nicht nur eine „Zootour“ anbieten, sind aber selten. „Private Tours“ hat vor wenigen Jahren exklusive Treffen mit Drogendealern in der Rocinha offeriert. Ausländer begegneten schwer bewaffneten Kerlen, die von üppigem Wochengehalt schwärmten und über Rivalen aus anderen Gangs herzogen. „Wer auf der Suche nach einem Gewaltcocktail à la City of God zu uns kommt, wird enttäuscht sein“, erklärt Marcelo Armstrong, dessen Reiseführer die Gangs meiden. Er wolle kein „Adrenalin geladenes Drogenhändlerspektakel vorführen“, vielmehr sei er auf der Suche nach einem optimistischen Bild von Brasilien.Manchmal gelingt es. Eine junge Engländerin aus der Gruppe hatte sich das Viertel schlimmer vorgestellt. „Die Menschen hier sind alle beschäftigt und arbeiten, statt sich selber zu bemitleiden“, sagt sie überrascht. Ihr Freund wundert sich, dass hier fast jeder Haushalt einen Fernseher hat. Nur vier von hundert Favela-Bewohnern verkaufen Schätzungen zufolge Drogen, die anderen verdingen sich legal, als Hausangestellte, Bauarbeiter oder Busfahrer. Sie sehen sich als Teil des wirtschaftlich aufstrebenden Brasiliens.Ein Hort der Kultur?Glória de Britto Pereira, Marketingchefin der Stadt Rio, residiert in einem klimatisierten Raum im zwölften Stock eines Büroturms am anderen Ende der Stadt. „Die Favelas gehören zu Rio wie Zuckerhut und Christusstatue“, sagt Pereira. „Dort liegt immerhin der Ursprung des Samba, der Percussion.“ Die Favelas als Hort der Kultur? Die smarte Marketingfrau lächelt. Die Armut in den Favelas sei nun mal Realität und natürlich nicht besonders touristisch attraktiv. Sie widerspricht sich etwas, möchte sich nicht festlegen, sie ist eine öffentliche Person.Alfredos Reisegruppe, oben in den Hügeln von Rio, zückt nun doch die Digitalkameras, die Aussicht auf die Atlantikstrände ist grandios. Eine andere mutet eher bizarr an: Die Rocinha wirkt an einer Stelle wie eingequetscht, zwischen einer gewaltigen Felswand und einer angrenzenden exklusiven Shoppingmall mit Golfplatz. Der schnöde Mammon liegt so nah.Nach ein paar Stunden bringt der Bus die Touristen wieder zurück an die Copacabana, in das schmucke Rio, den Teil mit dem die Stadt für die Olympischen Spiele 2016 wirbt. Favelas kommen in dem Imagefilm nicht vor.Nils Handler, 24, studiert Volkswirtschaftslehre mit Schwerpunkt Lateinamerika in Tübingen. Nebenher widmet er sich als freier Autor am liebsten der Frage, wie man Globalisierung fair gestalten kann
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