Wie konnte es passieren, dass das demokratische Wunderkind Mitteleuropas von 1989 sich zwei Jahrzehnte später als Problemkind der europäischen Union wiederfindet, mit einem nationalistischen Machthaber am Ruder, einer heruntergekommenen Wirtschaft und einer äußerst grimmigen Rechten im Parlament? Der altgediente Journalist Paul Lendvai, ein in Wien ansässiger und aus Ungarn stammender Mitteleuropaexperte, sieht den Grund für den Zustand Ungarns natürlich nicht allein in Premierminister Viktor Orbán. Doch wie der Brecht’sche Gangster Arturo Ui ist Orbán ein machtbesessener Autokrat, der sich eine Reihe spektakulärer politischer Katastrophen zunutze gemacht hat, um die Opposition außer Gefecht zu setzen und die Macht in einer Weise an sich zu reißen, wie man es nach dem Ende des Kommunismus nicht mehr für möglich gehalten hätte.
Um Ungarns gegenwärtiges Elend, insbesondere den Missbrauch der Geschichte durch die Nationalisten und den anhaltenden Antisemitismus zu erklären, geht Lendvai vor die achtziger Jahre zurück. Orbán selbst begegnet der Leser erstmals im Jahr 1988, als er, gerade mal 26-jährig, mit anderen Jurastudenten die Fidesz ins Leben rief, eine damals liberale Partei, die entschlossen war, den Kommunismus zu stürzen und Ungarn wieder an den Westen zu binden. Ein Fidesz-Plakat jener Tage fängt den Geist der samtenen Revolution ein: Es zeigt die knutschenden Kommunistenführer Breschnew und Honecker in seltsam ungestümer Umarmung ineinander verfangen und darunter ein ungarisches Paar, einen sachten Kuss austauschend. „Sucht euch eins aus!“ war darunter zu lesen.
Zentralisierung der Macht
Erst nur einer aus der Truppe, verwandelte Orbán die Partei rasch in sein persönliches Vehikel. „Der absolute Wille zur Macht“, schreibt Lendvai, „hat das Charakterbild von Viktor Orbán schon als Studentenführer und während seiner ganzen Karriere geprägt, auch wenn er es vermochte, nicht zuletzt dank willfähriger medialer Vermittlung, überwiegend nur als zielbewusster Politiker wahrgenommen zu werden: als Politiker mit Charakter, Bescheidenheit, und einer weißen Weste.“ Dem steht das Bild eines gewieften Demagogen gegenüber, der eine tiefe Herablassung gegenüber den Funktionsweisen der pluralistischen Demokratie hegt.
In den Neunzigern entledigte die Orbánpartei sich dann ihres neoliberalen Gewandes und wurde zu einer rechten, völkischen Partei, die mit dem Ängsten vor dem Ausverkauf eines Landes spielte, das mit dem wirtschaftlichen Übergang und den Ansprüchen der EU-Integration zu kämpfen hatte. Nachdem die Ungarn erst die moderaten Nationalisten, dann die Reformkommunisten und Liberalen aus dem Amt gewählt hatten, konnte Orbán 1998 das erste Mal die Macht mit Händen greifen, als die Fidesz und zwei kleinere Koalitionspartner eine Mehrheitsregierung mit dem 36-Jährigen als Premierminister zusammenschusterten. Wenngleich die Koalition nur eine Amtszeit überlebte, wurde deutlich, wohin die Reise gehen würde: Orbán betrieb die Zentralisierung der Macht auf allen Ebenen; er besetzte Schlüsselpositionen in den Medien und der Bürokratie durch seine Kumpane und band national gesinnte Geschäftsmänner und Industrielle an sich. Durch seine Verbindungen zu den Superreichen Ungarns konnte er ein Medienimperium aufbauen, das Print, Fernsehen, Radio und Internet umspannt. Vorherrschender Ton wurde dort das Gebrüll.
Unermüdlich trällerten die Medien nationalpopulistische Lieder wie das von den „Zigeunerverbrechen“ und das der Ungerechtigkeit des Vertrages von Trianon, welches den Ersten Weltkrieg formal mitbeendet und die magyarischen Minderheiten in den benachbarten Staaten Serbien, Slowakei, Ukraine und Rumänien zurückgelassen hatte. Wie im ganzen postkommunistischen Zentraleuropa, klagt Lendvai, gebe es auch in Ungarn keine selbstkritische Diskussion um die (nationalistische) Vergangenheit. Ungehemmt können darum antidemokratische Traditionen angezapft und dubiose Führer wie Admiral Miklos Horthy, der Ungarn im Zweiten Weltkrieg in eine Allianz mit Nazideutschland führte, zu Helden stilisiert werden. Eine der ersten Handlungen der Fidesz war die Einführung eines „Nationalen Tages der Zugehörigkeit“ am 90. Geburtstag des Trianon-Vertrages.
Das Versagen der Gegenseite
Mehr als alles andere hat dieser Diskurs den Boden bereitet für den überwältigenden Wahlsieg 2010 der Fidesz und den Aufstieg der offen fremdenfeindlichen und antisemitischen Jobbikpartei, die in jenen Wahlen 23 Prozent der Stimmen der 18- bis 29-Jährigen auf sich ziehen konnte. Diese Generation kennt kaum Alternativen zur herrschenden ungarischen Presse. „Es ist also kein Wunder“, schreibt Lendvai unter Bezug auf zahlreiche Umfragen, „dass das Denken in ethnischen und nationalen Kategorien mehr denn je seit dem Zweiten Weltkrieg verbreitet ist“.
Aber ohne die Untauglichkeit und dreiste Korruption der sozialistisch-liberalen Regierung wäre Orbáns Weg zurück an die Macht undenkbar gewesen. Die Sozialisten, bei denen es sich um eine reformierte Version der kommunistischen Partei handelt, waren nicht in der Lage, ihre Partei in eine sozialdemokratische Partei nach dem Vorbild der westeuropäischen zu wandeln. Die einst stolze kleine Partei der Intellektuellen und städtischen Liberalen des Landes, die Freien Demokraten, hat sich in inneren Kämpfen zerrissen. Da Orbán die kleineren konservative Rivalen eliminiert hat, indem er sie in die Fidesz integrierte, finden viele Wähler der ungarischen Mitte inzwischen keinen anderen Anlaufhafen mehr als die Orbán-Partei.
Mein verspieltes Land: Ungarn im UmbruchPaul Lendvai Ecowin Verlag 2010, 233 S., 23,60 €
Paul Hockenos ist ein US-amerikanischer politischer Journalist. Er lebt in Berlin
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