Ein böses Ende

Romankunst Nino Haratischwili spielt in ihrem Debutroman "Juja" gekonnt mit den Klischees der Unterhaltungsliteratur

In den siebziger Jahren erscheint in Frankreich Die Eiszeit von Jeanne Saré, die sich 1953, 17-jährig am Pariser Gare du Nord vor einen Zug geworfen und nichts als ein paar eng beschriebene Seiten in einem Schulheft hinterlassen hat. Das Buch wird ein Erfolg, 15 Frauen begehen nach der Lektüre Selbstmord, die vorletzte, Olga, indem sie die Todesart Sarés bis in Einzelheiten kopiert.

Die Geschichte soll authentisch sein, ließ der Verbrecher Verlag durchblicken: es gab einen ähnlichen Fall in Paris Mitte des 20. Jahrhunderts, aber eigentlich ist das unerheblich. Auch der Schauplatz – Paris – ist nur eine zusätzliche Metapher und damit Teil des Spiels, das Nino Haratischwili in ihrem Debütroman Juja souverän spielt. Es ist das Spiel mit dem Klischee der gehobenen Unterhaltungsliteratur für die Frau, die bei sehr empathischen Leserinnen im Entschluss gipfelt, nach der Lektüre Reihenhaus, Mann, zwei Kinder und Hund für immer zu verlassen und ein böses Ende zu nehmen. Oder wie die Kunstwissenschaftlerin Laura es formuliert: „Es geht um den Mythos des einsamen Mädchens, das die Welt vernichten will und stattdessen sich selbst umbringt.“

Die Geschichte spielt zu verschiedenen Zeiten und wird in 80 Kapiteln aus neun ineinander verwobenen Perspektiven erzählt. Erzählt werden sowohl die Umstände der Entstehung des Buches und das damit verbundene Schicksal der vermeintlichen Autorin Jeanne Saré, der Entwicklungsroman des Verlegers nebst Schwestern und Gattin und außerdem noch die parallele Recherche nach dem wahren Autor durch eine niederländische Kunstwissenschaftlerin einerseits und andererseits durch eine von einem Amoklauf in der Familie betroffenen Australierin. Es stellt sich heraus, dass es eine Jeanne Saré und ihren Selbstmord zu besagter Zeit gar nicht gegeben haben kann. Die 9. Person, das Autorinnen-Ich, hat nur eine Übergangsposition. Es hält den Erzählfaden, der die Perlen auffädelt und mit dem letzten Satz zu einer Kette zusammenschließt.

Nino Haratischwili will mit ihrem Roman alles auf einmal und dabei ein bisschen zuviel. Zuviel Unglück, zu viele Sorten Alkohol, zu viele Metaphern, zuviel ausgestelltes Auch-Mädchen-können-über harten-Sex-schreiben. Die Autorin probiert im Grunde alles aus an literarischen Möglichkeiten, von der Erzählperspektive bis zu den Zeitformen. Aber trotzdem fügt sich alles zusammen, verbirgt sich hinter dem schillernden Spiel ein unendliches Vertrauen der Autorin in die Wirkung von Literatur, die ihre Leser zu allem befähigt. Warum das Buch der Saré derart destruktiv wirken konnte, bleibt indes ein Rätsel, trotz oder gerade wegen der eingestreuten Ausschnitte.

Allerdings geht der Plot glücklicherweise und im Gegensatz zu den üblichen Unterhaltungsromanen dann doch nicht auf. Das Wort Distraction, Zerstreuung, auf einer Pariser Hausmauer, das schließlich gegen die angenommene Autorschaft des Verlegers spricht, verhindert das Happyend der Recherche. Es bleibt ein unerklärlicher Rest. Der Roman hat es bis auf die Longlist des Deutschen Buchpreises geschafft. Zu Recht. Juja ist jede Aufmerksamkeit zu wünschen, auch wenn das Altmädchenrosa des Umschlags gestandene, aber über den Inhalt uninformierte Leserinnen eher abschrecken wird.

Juja Nino Haratischwili Roman, Verbrecher Verlag 2010, 299 S., 24

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