Ein deutscher Traum

Buch Die soziale Frage ist zurück. Augstein und Blome streiten über die Antwort
Ausgabe 09/2019

Die Spannungen zwischen „oben“ und „unten“ zeigen sich nicht nur im Streit über Hartz IV oder die Vermögensteuer. Die Frage „Wer hat was?“ wurde ergänzt durch „Wer gehört dazu?“. Wenn Freitag-Verleger Jakob Augstein und der stellvertretende Bild-Chefredakteur Nikolaus Blome über mögliche Antworten streiten, dann prallen zwei politische Welten aufeinander.

Nikolaus Blome: Sozial gerecht kann Deutschland nur bleiben, wenn dabei auch geklärt wird: Was ist deutsch? Wer ist deutsch? Und wer nicht? Unten, das sind nicht mehr allein die Armen, sondern auch die Fremden – und die aus der Mitte, die sich von denen „da oben“ verraten glauben, von Politikern und den selbst ernannten Eliten. Die soziale Frage ist heute auch eine nationale Frage.

Jakob Augstein: Sie meinen, es handelt es sich um eine national-soziale Frage? Nehmen Sie es mir nicht übel, aber ich fühle mich mit diesen Begriffen nicht wohl.

Blome: Wir können auch Yin und Yang oder Dings und Bums sagen. Wenn Sie die Sache partout verhohnepipeln wollen …

Augstein: Es geht nicht um die Namen. Es geht um die damit bezeichneten Sachverhalte. National und sozial bezeichnen Handlungsräume politischen Wirkens. Mir geht es aber um die Macht. Die Macht transzendiert diese Räume. Wenn Sie sich auf die Räume konzentrieren, verlieren Sie die Macht aus den Augen. Aber das geht nicht nur Ihnen so – die Debatte wird tatsächlich im ganzen Land in falschen Gegensätzen geführt.

Blome: Sie können x-mal dekretieren, dass „die Debatte falsch geführt“ wird – sie wird geführt. Ob individuell und objektiv zu Recht oder zu Unrecht: Bestimmte Gruppen fürchten oder ärgern sich; Armut, Abstieg, Ausländer, den Titel haben wir ja nicht umsonst gewählt. Das macht etwas mit den Menschen, die das im Alltag auf einmal miteinander verknüpfen. In einer Reportage der Süddeutschen wurde einmal über Bürgerversammlungen an sozialen Brennpunkten berichtet, da wurde, glaube ich, eine deutsche Frau zitiert: „Wir warten auf Zuschuss für Unterrichtsmaterial. Die Syrer haben schon alles beisammen, weil denen so viel gespendet wird. Mir spendet keiner was …“ Dieser teuflische Satz „Für die tut ihr alles, für uns nichts“ verbindet die Kategorien national und sozial, da können Sie machen, was Sie wollen. Auch wenn er faktisch falsch ist.

Augstein: Ja, dieser Satz ist Unsinn, sachlich falsch. Die Frage ist doch: Warum entfaltet er dennoch solche Wirkung? Es gibt verschiedene Antworten. Eine, sagen wir mal: altlinke wäre zum Beispiel, dass der Schoß immer noch fruchtbar ist und so weiter, dass also der Deutsche seine eigentliche Nazi-Fresse zeigt. Allerdings gelten da im Osten andere Maßstäbe als im Westen. 50 Jahre Demokratie oder Halbdiktatur, das macht eben einen Unterschied in der politischen Kultur. Die Angst, von der Sie sprechen, ist real. Ihre Ursache liegt aber nicht in der Migration, sondern in der sozialen Verunsicherung. Und es passt der Herrschaft ganz gut in den Kram, dass sich das auf die Ausländer umlenken lässt.

Blome: Merken Sie etwas? Sie versuchen mit aller Kraft, die beiden Fragen getrennt zu halten, weil Sie ahnen, wie explosiv das Gemisch werden könnte. Aber wir brauchen die beiden Fragen, um zu verstehen, was da vor sich geht in der Gesellschaft. In Deutschland sind Rente, Jobs, Realeinkommen seit Jahren auf Rekordkurs, alles wächst, fast ein zweites Wirtschaftswunder. Trotzdem gärt Unbehagen in bestimmten Gruppen der Gesellschaft und gewiss nicht nur unter den sozial Schwachen.

Augstein: Das wundert Sie wirklich? It’s not the migration, stupid! Nehmen Sie die Bayernwahl 2018. Wie panische Spieler hatten alle Parteien vor allem auf das Einwanderungs- und Identitätsthema gesetzt – nur die Grünen nicht. Und das hat der Wähler belohnt.

Blome: Augstein, die AfD hat bei den Landtagswahlen ebenfalls blendend abgeschnitten, das unterschlagen Sie. Es sind die beiden Gefühlsparteien, die da gewinnen. Die Grünen sind die Gefühlspartei für die oben, und die AfD überwiegend für die unten. Mal sehen, wie das nach dem Ende der Ära Merkel weitergeht. Am mangelnden Geld für Umverteilung wird es nicht scheitern, das ist ja da: Aber entweder, es wird mit der Gießkanne ausgegeben, sodass der Einzelne nicht viel davon merkt. Oder es kommt nicht an, wo es hin soll, weil es in der Bürokratie klemmt wie bei den Schulsanierungen.

Info

Augstein und Blome Jeden Freitag liefern sich Jakob Augstein und Nikolaus Blome bei Phoenix einen politischen Schlagabtausch. In dieser Zusammenarbeit ist auch das Buch Oben und unten entstanden, aus dem wir hier einen Auszug veröffentlichen

Augstein: Der Staat fühlt sich doch heute nach seinem ganzen Selbstverständnis für Gesellschaftsgestaltung gar nicht mehr zuständig. Da entsteht eine paradoxe, für die Politik, die Demokratie, extrem gefährliche Situation: Die Leute blicken erwartungsvoll auf den Staat, auf die Verwaltung, die Ämter und wollen, dass man sich um ihre Probleme kümmert – aber da zuckt man nur hilflos mit den Achseln.

Blome: Das Problem ist nicht, dass der Staat bestimmte Dinge nicht mehr tun soll oder nicht mehr tun darf. Sondern dass er bestimmte Dinge nicht mehr tut, die er sehr wohl tun könnte. Die Gesetze sind da, das Geld ist da, aber die Probleme werden nicht gelöst, vom sanierungsbedürftigen Schulklo bis zur Abschiebung rechtskräftig abgelehnter Asylsuchender. Angela Merkel hatte zur zentralen Aufgabe der Großen Koalition am Beginn gesagt: „Die Leute wollen, dass das Land funktioniert.“

Augstein: Blome, wenn der Satz richtig ist: Für jemanden mit 5.000 Euro im Monat bedeutet Multikulturalismus etwas anderes als für jemand mit 1.000 Euro – dann muss der Staat dem Menschen, der 1.000 Euro hat, beim Multikulturalismus helfen, denn es ist keine Option, ihn davor zu bewahren oder zu schützen. Wenn Sie „Multikulti“ sagen, meinen Sie etwas, das gescheitert ist – da stimme ich Ihnen zu. Denn das Wort ist eine Chiffre für die naive Idee einer friedlichen und reibungslosen Migrationsgeschichte. Multikulti ist tot. Aber Multikulturalismus ist eine Realität, mit der wir leben lernen müssen. Abschottung ist für uns keine Option. Oder anders, damit auch Sie das verstehen: Es gibt für Deutschland keinen Gegensatz zwischen „national“ und „sozial“.

Blome: Wissen Sie, was der sogenannte Vordenker der Neuen Rechten sagt, Götz Kubitschek? Der Riss durch die Gesellschaft „muss noch tiefer werden“. Das Motto der Identitären in den USA heißt: „Vielfalt plus räumliche Nähe gleich Krieg“. Die träumen vom Umsturz, und wir schauen zu.

Augstein: Nicht alle. Sahra Wagenknecht hat ja versucht, mit der Sammlungsbewegung zu reagieren. Überhaupt ist es interessant, dass dieser Konflikt zwischen national und sozial, über den wir hier sprechen, nur in einer einzigen Partei ausgefochten wird: nämlich in der Linkspartei. Und zwar bis zum Punkt des Zerreißens. Ich halte das, wie Sie sich denken können, für falsch – weil für mich national und sozial zwei Seiten einer Medaille sind. Man kann aber daran ganz gut sehen, dass die Parteien die politischen Sentiments der Menschen nicht mehr richtig bündeln und abbilden können.

Blome: Sahra Wagenknecht ist Antikapitalismus verbunden mit einem sehr besitzstandswahrenden, national-konservativen Gesellschaftsbild. Das ist schon eine dreiste Mischung, aber eines stimmt: Die Linke muss höllisch aufpassen, dass die Neue Rechte und die AfD nicht ihre Erzählung kapern, Anwalt der kleinen Leute zu sein. Die SPD hat das verschlafen. Sie wäre die gottgegebene Schutzmacht derer, die sich wegen Globalisierung und Migration gleichermaßen sorgen. Das Traurige ist: Verstanden haben das in der SPD nur die Kommunalpolitiker. Denen sie in der Berliner Parteizentrale aber sehr gern provinzielle Piefigkeit vorwerfen.

Augstein: Es ist interessant, dass Sie das erwähnen: Der Konflikt zwischen Peripherie und Zentrum spielt sich eben auch in den Parteien ab. Aber ich bleibe dabei: dass wir überhaupt in der Kategorie „national“ denken, ist eine Folge des neuen Populismus. Und der Populismus ist ein Krisenzeichen des kapitalistischen Systems nach der Bankenkrise 2008. Das Wort „national“ taugt für mich nicht als analytische Kategorie.

Blome: Wenn Sie dieses Wort aussortieren, werden Sie den Bezug zu ganz vielen verlieren, die ohne diese Kategorie nicht diskutieren wollen. Die Rettung des Euro nach der Finanzkrise musste national organisiert werden, das erkannt und durchgesetzt zu haben, ist übrigens Angela Merkels bleibendes Verdienst. Was an Milliardeneinsatz dafür nötig war, hätten Sie nie allein europäisch legitimieren können, dazu brauchte es die nationalen Parlamente. Sozial, gerecht und europäisch kann Deutschland nur sein, wenn geklärt ist: Was ist deutsch und wie viel Zuwanderung verträgt das Land?

Augstein: Wissen Sie, was Böhmen am Meer ist?

Blome: Nein.

Augstein: Das nennt man ein Adynaton – etwas, das unmöglich ist. Die Vorteile der Grenzenlosigkeit zu ernten, dabei aber die Sicherheit der Grenzen zu genießen – das wird nichts werden. Die Engländer lernen das gerade.

Blome: So saublöd, wie die Briten das angestellt haben, geht es natürlich nicht. Aber warum soll massenhafte Zuwanderung aus Afghanistan zwangsläufig die andere Seite von massenhaftem Handelsverkehr mit Afghanistan sein?

Augstein: Die Antwort lautet: Wirklichkeit. Globalisierung bedeutet, dass jeder Afghane – sobald er einen Sendemast in seinem Tal hat – sehen kann, wie es im Rest der Welt aussieht. Und dann macht sich der eine oder andere auf den Weg. Unsere eigenen Werte zwingen uns, in ihnen Mitmenschen zu sehen, denen wir den Wunsch nach einem besseren Leben nicht verübeln können. In Wirklichkeit ist die Globalisierung keine faire Angelegenheit, da herrschen nicht die Regeln des offenen Wettbewerbs, die Sie an der Universität in Bonn gelernt haben. Es herrscht ein vom Westen dominiertes Abhängigkeitsverhältnis, es herrscht Ausbeutung.

Blome: Sie reden von Werten. Sie haben recht, darum wird es am Ende gehen. Weltoffenheit und Mitmenschlichkeit sind Werte, die wir unbedingt hochhalten sollten. Aber Stabilität, nationale Kultur und sozialer Zusammenhalt sind auch Werte. Oder Demokratie und Gleichberechtigung. Was, lieber Augstein, wenn bestimmte Werte in Gegensatz treten? Wenn zu viele Menschen ins Land kämen, die vom derzeitigen Frauenbild des Islam nicht lassen wollen, dann bringen sie die hier erreichte Emanzipation der Frau in Gefahr.

Augstein: Schon verstanden. Ich habe dazu mehrere Haltungen gleichzeitig. Eine davon lautet: Deutschland als neues Amerika, ein German Dream, ein deutscher Traum von einem Einwanderungsland, das allen offensteht, die ihr Glück suchen und sich an die Regeln halten. Das würde allerdings eine radikale Abkehr vom herkömmlichen Sozialstaat bedeuten. Wenn man den Konflikt zwischen sozial und national nicht dadurch lösen will, dass man beides auf einmal abschafft, wird man einen Ausgleich finden müssen. Man kann eine Menge Sozialstaat mit einer Menge Migration haben.

Blome: Das ist ein klares Wort. Immerhin wissen wir nun, wo wir stehen, vielleicht stellvertretend für zwei Lager im Land. Denn ich sage: so viel Sozialstaat wie nötig und vor allem: nur so viel Migration wie nötig. Ganz ehrlich, ich fürchte, es wird schon schwer genug werden, diese Formel zu halten. Unruhige Zeiten liegen vor uns.

Augstein: Blome, das stehen wir zusammen durch!

Info

Oben und unten Jakob Augstein, Nikolaus Blome Deutsche Verlags-Anstalt 2019, 272 S., 20 €

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