Wenn man auf einen Blick eine Vorstellung davon bekommen will, wie es um die deutsche Einheit nach fast 18 Jahren bestellt ist, so sollte man die Schaubilder im letzten Teil des Jahrbuches Gerechtigkeit III öffnen. Dort hat Klaus Heidel im Auftrag der 31 kirchlichen Herausgeber - von der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau über das Diakonische Werk Bayern bis zur Katholischen Arbeitnehmerbewegung - Karten zusammengestellt, die Wirtschaftskraft, Einkommensverteilung, Arbeitslosenraten, Wanderungsverluste und viele andere Sozialindikatoren farbig nach Regionen abbilden. Fast überall springt einem dort die alte DDR als besonders dunkles Farbfeld entgegen. Lediglich der Speckgürtel um Berlin hebt sich mal ab, mitunter gibt es noch vergleichbare Farbflecken im Saarland
m Saarland und Teilen des Ruhrgebietes. Man möchte glauben, dass hier zwei verschiedene Länder dargestellt werden, aber nicht ein Staat, der seit 18 Jahren mit großen finanziellen Anstrengungen einheitliche Lebensverhältnisse anstrebt.Woran das liegt, wird in den Textbeiträgen im vorderen Teil des Buches deutlich. Im ersten Abschnitt legt der Lenkungsausschuss für die Herausgabe des Jahrbuches Gerechtigkeit einen kirchlichen Diskussionsbeitrag zu den Perspektiven der deutschen Einheit vor, der sich auf solide Analysen gründet. Die Ursachen für den anhaltenden "Riss zwischen Ost und West" sehen die Autoren im gescheiterten "Nachbau West", der von einer Übernahme veralteter Strukturen ausging, die für das anbrechende Zeitalter der Globalisierung ungeeignet und selbst reformbedürftig waren. Zudem ist versäumt worden, eine eigenständige Strukturpolitik für das Gebiet der ehemaligen DDR zu konzipieren, es erfolgte lediglich "eine komplementäre Eingliederung der ostdeutschen Wirtschaft in den westdeutschen Markt", was zur Folge hatte, dass "die für die westdeutsche Wirtschaft überflüssigen Teile der ostdeutschen Wirtschaft in der Regel schrumpften oder ganz verschwanden". Auf diese Weise konnte trotz enormer Transferleistungen bis heute kein "selbsttragender Aufschwung Ost" angestoßen werden.Um dies zu ändern, schlagen die kirchlichen Sozialexperten "neue Entwicklungspfade" für den Osten und Gesamtdeutschland vor, die aus drei Kernelementen bestehen sollten: Erstens wird ein Ausstieg aus der Transferökonomie empfohlen, an deren Stelle eine "Privilegierung von Produktion und Dienstleistungen in den neuen Bundesländern" treten sollte, wozu die Förderung von Nachfrage und Absatz ostdeutscher Waren gehört. (Ähnliches schlug Norbert Peche vergangenen Herbst in seinem Buch Selbst ist das Volk vor, das den bezeichnenden Untertitel trägt Wie der Aufschwung Ost doch noch gelingen kann.) Zweitens sollen die Ansätze einer nachhaltigen Wirtschaft gestärkt werden, was den Ausbau der Produktion von Umwelttechnologien und die Entwicklung regenerativer Energien meint, vom ökologischen Landbau bis zur Biokraftstofferzeugung. Drittens schließlich wird eine "neue Verfassung der Erwerbsarbeit" gefordert, wozu die Verknüpfung unterschiedlicher Arbeitsformen gehört, ein "ganzheitliches Wirtschaften an der Grenze zwischen Selbstversorgung, Gemeinwesenarbeit und Markt". Hierzu könnte auch ein bedingtes Grundeinkommen gehören.Für alle drei Entwicklungswege seien Initiativen, Projekte und Experimente erforderlich, die eine gesellschaftliche und politische Unterstützung erfahren müssen, da nur so die dringend notwendigen Suchprozesse zu anwendbaren Ergebnissen führen können. Statt bürokratischer Einschränkungen durch vorgegebene Normen werden offene Experimentierfelder benötigt.Im zweiten Teil des Buches, der mit "Zwischenrufe" überschrieben ist, werden dann in 18 Beiträgen einzelne Aspekte vertieft, von der Frage der "territorialen Gerechtigkeit" bis hin zum Selbstverständnis der Akteure als Opfer oder gestaltende Subjekte. In diesem mittleren Abschnitt sind nicht alle Beiträge so prägnant und konzise wie die Texte am Anfang und Ende dieses Jahrbuches, das gemeinsam vom Publik-Forum und der Frankfurter Rundschau herausgegeben wird. Insgesamt stellt der Band unter Beweis, dass die offenen Probleme der deutschen Einheit keinesfalls nur ein Thema des Ostens sind, sondern das gesamte Deutschland betreffen und dringend einer öffentlichen Erörterung bedürfen. Die 31 beteiligten kirchlichen Institutionen haben dafür erfreulich klare Worte gefunden.Kirchlicher Herausgeberkreis Jahrbuch Gerechtigkeit Zerrissenes Land. Perspektiven der deutschen Einheit. Publik-Forum, Oberursel 2007, 256 S., 13,90 EUR