Aus Frankreich ist nach dem 21. April 2002 ein Land geworden, das Angst vor seinem Schatten spürt. Die Linke um Jospin hat rechtzeitig ihre Lust am Harakiri entdeckt und der zweiten Runde bei den Präsidentschaftswahlen die Ansetzung Supervisor gegen Superfascho verschafft. Das politische System der V. Republik - seit Jahren aus dem Gleichgewicht - ist in die Nähe seiner Implosion geraten. Le Pen wirbt mit dem Ausstieg aus den Verträgen von Maastricht und hofft auf 25 bis 30 Prozent am 5. Mai. Das Europa der Eliten wird weiter an Bürgern verlieren.
Ab zehn Uhr abends sind sie auf den Straßen, auf denen von Marseille wie auf denen so vieler anderer französischer Städte an diesem 21. April: Die Jugendlichen, die erkennbar aus der Bewegung für eine a
2;r eine andere Globalisierung kommen. In Transparenten wie "Wahltag der Schande" und Sprechchören gegen Le Pen und den Front National (FN) schreien sie ihre Empörung über das Ergebnis der ersten Runde bei der Präsidentschaftswahl in den Nachthimmel - "Ni Chirac, ni Le Pen!" Doch das ist gerade unmöglich geworden - genau zwischen denen müssen sie sich nun notgedrungen entscheiden.Le Pen, der Millionär, sagt am Wahltag, er kenne "die Kälte, den Hunger, die Armut"Marseille ist der "Melting Pot" im Süden Frankreichs. Eine brodelnde, faszinierende, multikulturelle Stadt. Kaum zu glauben, dass Le Pen gerade hier den Grundstein zu seinem Erfolg legen konnte. Doch schon beim zweiten Blick fällt auf, dass sich Marseille derzeit eher durch eine Ethnisierung seiner Bewohner auszeichnet: sie wurde jüngst bei Zusammenstößen zwischen arabischen und jüdischen Bevölkerungsteilen vor dem Hintergrund des Krieges in Palästina sichtbar. Sie entlädt sich nun im Votum für die Rechtsextremen: 23,3 Prozent haben in Marseille Le Pen gewählt, er liegt damit vorn - fünf Prozent vor Chirac, acht vor Jospin. Auch in allen nördlichen Arbeitervierteln triumphiert Le Pen, selbst in der einstigen Hochburg der Kommunisten, im 16. Arrondissement L`Estaque, wo 1981 der kommunistische Vizebürgermeister Lajoinie noch 51 Prozent der Stimmen erhielt. An diesem Abend stehen dort für Le Pen 24,4 Prozent im Protokoll, zwölf für den Kandidaten Robert Hue (PCF).Wie die südfranzösische Tageszeitung La Provence am Tag danach nüchtern feststellt, sind es vor allem Städte wie Nizza, Marseille, Avignon, Martigues, Arles, Cavaillon, Oranges oder Carpentras, in denen Le Pen oft deutlich mehr als 20 Prozent verbucht. Doch es besteht wenig Anlass, dies als politisches Erdbeben zu deuten, denn schon beim Präsidentenvotum von 1995 geriet die Galionsfigur des Front National in Marseille mit 22,3 Prozent an die Spitze. Und 1988, als Le Pen erstmals antrat, gewann er in Marseille gleich 28,3 Prozent. - "Man darf sich nicht in die Tasche lügen. Es gibt in Frankreich eine lange Tradition der extremen Rechten, die nie wirklich verschwunden ist", meint Vincent Geisser, ein Wahlforscher, der das Heimspiel der Ultrarechten in Vitrolles (nördliche Banlieue von Marseille) analysiert, wo Le Pen und sein rechtsextremer Konkurrent Bruno Mégret zusammen 34 Prozent erhielten.Woher rührt die seit den achtziger Jahren auffallend stabile Akzeptanz, auf die Le Pen gerade im Süden stößt? Eine Erklärung ergibt sich aus der sozialen Basis des Front National. Sie rekrutiert sich vorzugsweise aus sogenannten Répatriées - Algerienfranzosen, die nach dem verlorenen Kolonialkrieg 1962 nach Frankreich zurückkehren mussten und sich mit ihren Familien in einem Gebietsgürtel, der von Perpignan bis nach Nizza reicht, niederließen. Dieses Milieu, mit dem sich auch ehemalige Kolonialoffiziere und zeitweise in den Untergrund abgetauchte rechte Militärs der Geheimarmee OAS (Organisation Armée Secrète) identifizieren, die 1961 in Algier gegen die Entkolonialisierungspolitik de Gaulles putschten, sichert Le Pens Hinterland. Mit dieser Spezies gibt es eine große biographische Nähe, denn in den fünfziger Jahren pendelte Le Pen zwischen einer Existenz als junger Parlamentarier in Paris und einer soldatischen Karriere als Kolonialkrieger - und Folterspezialist - in Indochina und Algerien. Vieles am heutigen Habitus des eloquenten Demagogen lässt sich ohne Wissen um diese Genese des modernen französischen Rechtsextremismus nicht verstehen. Das gilt besonders für die Selbststilisierung als Verfolgter, als Opfer und als Anwalt der Erniedrigten und Beleidigten. Le Pen, der Millionär, sagt am Wahlabend, er kenne "die Kälte, den Hunger, die Armut". Die Attitüde führt zurück in eine Ära der Kolonialkriege, als der in Vietnam kämpfende Soldat die Weigerung vieler aus der Résistance kommender Rekruten, den Krieg fort zu führen, als Verrat empfindet und sich selbst als dessen erstes Opfer empfindet. So auch in Algerien: Als Charles de Gaulle 1958 die V. Republik ausruft, setzt Le Pen kurzzeitig alle Hoffnung auf den General, wie große Teile der Algerienfranzosen auch. Dass de Gaulle dann einen Weg einschlägt, der schließlich zur algerischen Unabhängigkeit führt, haben ihm Le Pen und mit ihm die in Frankreich oft verächtlich als pieds noirs (Schwarzfüße) verspotteten Algerienfranzosen nie verziehen. Von nun an ist für diese Klientel die bürgerliche Politikelite der Nation immer gleichbedeutend mit nationalem Verrat. Die vorherrschende Lesart ihrer zweifellos tragischen Geschichte wird in den "Répatriée-Familien" seither ausgesprochen erfolgreich an die nächste Generation weiter gegeben.Lange Zeit konnte sich in Frankreich der Nationalismus dieser Unterprivilegierten nicht direkt als Rechtsextremismus artikulieren, weil es in den sechziger Jahren keine organisatorische Plattform dafür gab. Als Le Pen 1972 den FN gründet, dümpelt der noch bis 1981 bei wenigen Prozentpunkten dahin. Erst die Regierungsübernahme der parlamentarischen Linken aus Sozialisten und Kommunisten - vor allem deren Migrationspolitik - gibt den Ausschlag. Der Front bindet durch die Person Le Pen fortan nicht nur die lange zerstrittenen, heterogenen Strömungen der extremen Rechten, sondern ebenso katholische Fundamentalisten um den vom Vatikan abtrünnigen Bischof Lefébre über Theoretiker aus neurechten Intellektuellenzirkeln um Alain de Benoist bis hin zu den neuheidnischen Rassisten um Bruno Mégret. Zugleich bildet der FN tentakelartige Satellitenstrukturen für seine amorphe soziale Klientel: Verbindungen für Erwerbslose, für Jugendliche, FN-Bünde für Autofahrer, für Jäger, gleichzeitig für Tierschützer, für Unternehmer und für Arbeitende. Polarisierende Gegensätze werden durch die seinerzeit entwickelte und bis heute die Wahlkämpfe prägende Taktik der "Préference Nationale" überspielt: Will Renault Arbeiter entlassen, unterstützt die unternehmerfreundliche Organisation des FN die Entlassungspläne, während gewerkschaftsähnliche FN-Gruppen mutmaßlich die Beschäftigten verteidigen, solange es französische sind.Tentakelartige Satellitenstrukturen für eine amorphe soziale KlientelWo soziale Spannungen auftreten, leitet sie die "Préference Nationale" auf die Rücken der Migranten um. Zwischenzeitlich, bei den großen Dezemberstreiks 1995, droht diese Strategie einer "Proletarisierung" zu scheitern, denn im Kampf auf der Straße und in den Betrieben entdecken die Franzosen kurzzeitig die Solidarität mit den Kollegen anderer Herkunft. Doch Le Pen ist längst dabei, zur Abrundung seiner anti-arabischen Ressentiments ein weiteres Terrain zu sondieren: die innere Sicherheit sei bedroht, vor allem von nichtfranzösischen Einwanderern - Frankreich sehe sich schleichender Islamisierung ausgesetzt, verkündet er. Im Frühjahr 2002 allerdings nicht mehr allein - fast alle haben sich des Themas bemächtigt: Präsident Chirac ebenso wie Premier Jospin. Die Konsequenz kann FN-Generalsekretär Gollnisch am Wahlabend in den Satz fassen: "Die Wähler haben das Original der Kopie vorgezogen ..."Wahlergebnisse des Front National 1993 - 2002 (Angaben in Prozent):Parlamentswahl 1993: 12,4 Europawahl 1994: 10,5 Präsidentschaftswahl 1995 1. Wahlgang / Le Pen: 15,3 Parlamentswahl: 1997 14,7 Europawahl 1999: 5,7 Präsidentschaftswahl 2002/ 1. Wahlgang / Le Pen: 17,2
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