Ein Erdrutsch ist möglich

Votum über die EU-Verfassung in den Niederlanden Ein klares Nein am 1. Juni würde vom weiter schwindenden Vertrauen in die politische Klasse zeugen

"So etwas nie wieder! Die Gefahr droht! Stimmt für die Verfassung!", tönt es aus einem Werbespot der rechtsliberalen Regierungspartei VVD. Bilder ziehen vorbei: Juden auf dem Weg ins Vernichtungslager, Massengräber in Srebrenica und der Bombenanschlag auf einen Vorortzug in Madrid vor einem Jahr. Akustisch untermalt wird dieses Kaleidoskop der Apokalypse durch schreiende Kinder und knallende Gewehre. Obwohl nach Protesten schnell zurückgezogen, zeigt der Spot die Härte der Debatte in den Niederlanden und den Hang zur Panik bei den Befürwortern der EU-Verfassung.

Kürzlich warnte der christdemokratische Justizminister Donner: Werde die Verfassung nicht angenommen, drohe wieder Krieg in Europa. Und ausgerechnet Wirtschaftsminister Brinkhorst vom sozialliberalen Koalitionspartner D´66, dessen Steckenpferd seit jeher die Demokratisierung ist, meinte vergangene Woche, die ganze Abstimmung sei "eine schlechte Idee": "Wir organisieren ein Referendum über ein Thema, von dem die Bevölkerung nichts weiß". Alle Umfragen weisen auf ein deutliches Übergewicht des "Nein" beim Referendum am 1. Juni. Und was für die Regierung noch prekärer ist: diese Mehrheit wächst mit jedem Tag, weil das "Ja" stagniert.

Wie anders waren die Erwartungen noch vor zwei Jahren, als das Parlament für das jetzt ausstehende Referendum votierte. Es sollte Gelegenheit bieten, die Bürger endlich mehr für das europäische Projekt zu gewinnen. 85 Prozent des Parlaments waren damals für die EU-Verfassung, darunter die oppositionellen Sozialdemokraten und Grünen. Und anders als in Frankreich unterstützen bis heute sogar die niederländischen Gewerkschaften den Verfassungsvertrag.

Nur einige kleine Parteien wandten sich von Anfang an dagegen, so die im Parlament schwach vertretene, aber aktive Sozialistische Partei (SP), die mit einer Mischung aus sozialen und nationalistischen Argumenten aufwartet. Das Kampagnenplakat der ehemaligen Kommunisten zeigt eine Europakarte ohne die Niederlande - der Ruhrpott darf sich schon einmal auf einen Nordseestrand in seiner Nähe freuen. Internationalistischer gibt sich das Komitee Verfassung Nein. Diese Koalition aus SP-Mitgliedern und einigen kleineren linken Gruppen plädiert für ein Europa, das "sozial, friedlich und solidarisch mit anderen Teilen der Welt" ist. Ein ganz anderes Nein kommt von einigen christlichen Parteien und rechtspopulistischen Formationen wie den Erben Pim Fortuyns. Letztere, wie die extreme Rechte überhaupt, setzen sich als militante Gegner einer EU-Aufnahme der Türkei in Szene.

Wahrscheinlich im Glauben an eine überschaubare Opposition, versprach die Regierung zu Jahresbeginn eine Kampagne mit gleichen Konditionen für alle. Nur für den Fall, dass die Verfassungsgegner eine große Materialschlacht inszenieren sollten, wollte man auf die eigene, staatliche "Kriegskasse" zurückgreifen. Obwohl dieser Fall nicht eingetreten ist, hat das Kabinett von Premier Jan Peter Balkenende inzwischen 3,5 Millionen Euro extra bewilligt, um die Stimmung noch zu kippen. Allerdings dürfte mehr Werbung für die Verfassung erst recht den Trotz ihrer Gegner anstacheln.

"Wir wurden nie etwas gefragt, jetzt werden wir denen da oben mal zeigen, was wir davon halten", ist die vorherrschende Meinung. Die Sorge um den Sozialstaat, der Nationalismus, die Abkehr von der Regierung und das Gefühl, mit dem Euro sei alles teurer geworden, ergeben zusammen eine paradoxe Situation: Obwohl nahezu alle wichtigen Parteien und Verbände für die Verfassung sind, ist die Mehrheit der Bevölkerung dagegen. Ein Indiz dafür, dass die Krise der Institutionen, wie sie seinerzeit mit dem Aufstieg von Pim Fortuyn sichtbar wurde, noch immer virulent ist. Während früher eine große Mehrheit ihr Leben lang die gleiche Partei wählte, kann heute jede Abstimmung in den Niederlanden einen politischen Erdrutsch auslösen - auch ein Verfassungsreferendum.


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