Ein Europa bis Mesopotamien?

Kommentar Türkischer Reformeifer

Kühn ist der Reformwerk, zu dem sich das türkische Parlament durchgerungen hat, um die EU kurz vor der Osterweiterung an die versprochene Südosterweiterung zu erinnern. Hart wird die Union bleiben, weil sie derzeit selbst Aspiranten wie Rumänien oder Bulgarien mit Kusshand nehmen würde, bliebe ihr dadurch das anatolische Abenteuer erspart. Ankara könnte seine zivilisatorischen Maxime aus der Europäischen Menschenrechtskonvention abschreiben, Abdullah Öcalan aus der Todeszelle in einen komfortablen Hausarrest entlassen oder ganz ziehen lassen - man könnte einen Staatshaushalt präsentieren, der die EU-Stabilitätswächter zu Tränen rührt - es würde nichts nützen. Das Land käme der ersehnten Aufnahme bestenfalls um Millimeter näher und bliebe von der Schwelle zum Aufnahmeverfahren doch meilenweit entfernt.
Die Europäisierung der Türkei würde die Europäische Union nur dann überzeugen, käme sie mit einem geografischen Urknall daher, der dem Land einen radikalen Standortwechsel beschert und zu einer Lage etwa zwischen Spanien und Frankreich oder Deutschland und Dänemark führt. Auf jeden Fall im Dunstkreis christlich-abendländischen Kulturguts, jenseits aller islamisch-morgenländischen Verwicklung. Nur dann könnte die Stimmung umschlagen. Brüssel fürchtet nicht den kranken Mann am Bosporus, es fürchtet den Muselman vom Bosporus, der für die Union eine Kulturrevolution heraufbeschwört - oder eben nicht passt. Wenn es derzeit in den beiden größten Fraktionen des Europäischen Parlaments, der liberal-konservativen EVP und der sozialdemokratischen SPE eine klare Mehrheit gegen einen türkischen Beitritt gibt, dann mag das gewiss viel mit rechtsstaatlichen und ökonomischen Standards zu tun haben - zuallererst aber mit der Gewissheit: Sitzt die Türkei erst am Tisch, ist fortan der bevölkerungsreichste EU-Staat ein islamisches Land. Das in Zeiten von Anti-Terror-Hysterie und Kampf der Kulturen?
Die EU würde dank eines türkischen Neuzugangs über gemeinsame Grenzen mit Syrien, dem Irak und Iran (auch mit Georgien und Armenien) verfügen, das hieße aus der relativen Distanz in direkte Tuchfühlung mit der Krisenregion Naher und Mittlerer Osten geraten. Die Union wäre vom Moderator dortiger Konflikte zum Matador befördert. Was geschieht zum Beispiel, wenn sich die USA nach einem Schlag gegen den Irak bald einen eben solchen gegen Iran vorbehalten? Teheran eine Verstrickung in islamistische Netzwerke und terroristische Ambitionen vorzuwerfen, das klingt für viele Ohren gewiss plausibler, als solches gegenüber Bagdad zu behaupten. Dann haben die Europäer mindestens eine Flüchtlingswelle zu erwarten, die das EU-Mitglied Türkei auffängt, um sie als EU-Problem weiterzuleiten. Von allen anderen Gefahren ganz abgesehen. Der potenzielle Frontstaat Türkei ist und bleibt - solange die Dinge so sind, wie sie sind - keine Empfehlung für das risikoscheue Europa.

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Geschrieben von

Lutz Herden

Redakteur „Politik“, zuständig für „Ausland“ und „Zeitgeschichte“

Lutz Herden studierte nach einem Volontariat beim Studio Halle bis Ende der 1970er Jahre Journalistik in Leipzig, war dann Redakteur und Auslandskorrespondent des Deutschen Fernsehfunks (DFF) in Berlin, moderierte das Nachrichtenjournal „AK zwo“ und wurde 1990/91 zum Hauptabteilungsleiter Nachrichten/Journale berufen. Nach Anstellungen beim damaligen ORB in Babelsberg und dem Sender Vox in Köln kam er Mitte 1994 als Auslandsredakteur zum Freitag. Dort arbeitete es von 1996 bis 2008 als Redaktionsleiter Politik, war dann bis 2010 Ressortleiter und danach als Redakteur für den Auslandsteil und die Zeitgeschichte verantwortlich.

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