Ein Fest der Stummheit

Literatur China ist in diesem Jahr zwar Gastland der Frankfurter Buchmesse, literarisch ist es aber nur mäßig entwickelt. Das Reich der Mitte steht gerade an einem Scheideweg

Der Leiter der Zensurbehörde GAPP ist zur Sitzung in Peking eingeladen. Er hat die Liste mit den Autoren dabei, die China auf der Buchmesse in Frankfurt vertreten sollen. Es gilt, die Gesellschaft Chinas abzubilden: Alt und Jung, Han-Chinesen und Minderheiten, Männer und Frauen, Vertreter aus dem Süden und dem Norden. Ein paar bekannte Namen müssen dabei sein, aber niemand, der zu kritisch auftritt. Der Ministerpräsident nickt gefällig. Keine Konflikte, sagt er, bloß keinen Streit. Wir brauchen Ruhe und Konsens für unsere Entwicklung, auch für die der Literatur. Harmonie ist wichtig, zum Wohle des Landes!

So oder ähnlich könnte es sich abgespielt haben, als darüber entschieden wurde, wie sich China in diesem Jahr als Gastland auf der Buchmesse präsentiert. China will nicht die Literatur seines Landes ausstellen, China will vor allem gut aussehen. Der enorme Aufwand, den das Land bei internationalen Ereignissen wie diesem betreibt, hat einen Zweck: China will Anerkennung.

Zur Gruppe von etwa 50 Autoren, die schon jetzt bis zum Herbst wegen der Buchmesse nach Deutschland kommen wird, gehören große Namen wie Mo Yan (Das rote Kornfeld), Su Tong (Reis), Wang Meng (Rare Gabe Torheit), die der eine oder andere im Westen kennt. Genug ist das nicht. Warum fehlt ein Schriftsteller wie Yan Lianke? Sein vor zwei Jahren auf Deutsch erschienenes Buch Dem Volke dienen durfte in China nicht veröffentlicht werden. Warum ist Yang Xianhui (Die Rechtsabweichler von Jiabiangou) nicht mit dabei, der in seiner Reportageliteratur auf die katastrophale Hungersnot und die Lage in den Arbeitslagern zum Ende der fünfziger Jahre hingewiesen hat? Was haben dagegen Jing Yongming und He Shen den deutschen Liebhabern chinesischer Literatur zu sagen? Der eine, Jing, ein Spezialist für Literatur im Bergbaumilieu und hauptberuflich Vertreter eines Kohlekonzerns in Peking; der andere, He, ein Kaderschriftsteller, der sich durch Parteimitgliedschaft und diverse Pöstchen in Politik (Vertreter des Volkskongresses) und Verwaltung (Chef eines Propagandaamtes) Einfluss verschafft hat. Ein paar Erzählungen hat er auch verfasst, was soll er sonst auf der Buchmesse?

Verständigungsprobleme

Es wird laut und protzig zugehen an den Oktobertagen von Frankfurt. Verwöhnt vom Erfolg der Olympischen Spiele im vergangenen Jahr darf sich China nun eine kurze Zeit als Weltmittelpunkt der Literatur begreifen. Jenseits des Getöses aber wird man eine Stille spüren. Man wird sich fragen, was los ist mit der Literatur Chinas. Und wenn der Lärm nach einer Weile wieder verklungen ist, dürfte die ernüchternde Erkenntnis eintreten: Frankfurt ist ein Fest der Stummheit gewesen.

Das Stummbleiben beginnt bei den Autoren, von denen die meisten nicht ausreichend Englisch sprechen. Das Vorformulierte, Abgelesene lässt sich so noch kommunizieren. Was aber geschieht in der Diskussion mit dem Publikum, dem Gespräch mit Journalisten, der Begegnung mit anderen Schriftstellern? Am Ende wird vieles unverstanden oder missverstanden bleiben. Trotz der Höhepunkte, die es geben wird. Der logistische Aufwand zur Übersetzung der Großen und Bekannten lohnt sich dann womöglich, zumal bei denen, deren Werke schon länger auf Deutsch vorliegen wie bei Yu Hua (Brüder), Su Tong oder Wang Meng. Beim letztgenannten kann man allerdings stutzen: Schreibt der überhaupt noch? Die letzten Übersetzungen des Werks des ehemaligen Kulturministers sind fast 20 Jahre alt. Von den Jungen, wie der in den achtziger Jahren geborenen Autorin Zhang Yueran, die im Ausland gelebt und studiert hat, liegt bisher nichts in deutscher Übersetzung vor. Über Literatur kann man schon mal nicht reden.

Chinas Gegenwartsliteratur ist in Deutschland bisher weitgehend stumm geblieben. Vielleicht ein Dutzend Übersetzer des Chinesischen (davon nur die Hälfte professionell) arbeiten seit Jahren auf Hochtouren, um die Show in Frankfurt zu bedienen. Die Verlage brüsten sich damit, hundert chinesische Neuerscheinungen vor der Messe auf den Markt gebracht zu haben. Helfen wird es wenig, solange der Verleger glaubt, Schrille sei besser als Stille: Wieder ein verbotenes Buch mehr hier (Yan Lianke), ein Skandälchen dort (Hong Ying: Die chinesische Geliebte) – das Getöse des Marktes. Aber glauben die deutschen Verlage, dass deutsche Leser immer nur das Gleiche über China lesen wollen? Gibt es die „gute“, anspruchsvolle chinesische Literatur der Gegenwart vielleicht am Ende doch und hat sie nur noch keiner entdeckt?

Eine komplexe Kultur und Gesellschaft wie die chinesische entzieht sich der Möglichkeit zu einfachen Erklärungen und Urteilen. Auch Chinas Literatur der Gegenwart lässt sich weder auf die Schnelle erläutern noch bewerten. Man versteht die moderne chinesische Literatur und Kunst nicht, wenn man sich nicht klar macht, dass das Land einen jahrzehntelangen Stillstand durchlebt hat. China befindet sich heute in einem Zustand der Schizophrenie, überall gibt es Widersprüche, die Tradition ist nicht mit der Moderne in Einklang zu bringen, und angestrengt sucht man überall nach einem eigenen Weg in der Abgrenzung von den Mustern, die der Westen bisher geliefert hat. Doch das ist nur eine – die oberflächliche – Seite. Schizophren wird es heute für Intellektuelle und Künstler in China vor allem deshalb, weil niemand den Blick ohne Weiteres auf das Ganze richten kann – wenigstens nicht in der Öffentlichkeit.

Die Brüche dürfen nicht sichtbar werden, die selbst erlebte Vergangenheit ist nie mit der offiziell propagierten kongruent. Immer noch ist das Verschweigen, Verheimlichen, Beschönigen an der Tagesordnung. Möglich ist nur ein Leben in den Nischen. Das ist zwar besser als früher, als die Zensur Autor und Werk vernichtete, aber die Lücke in der Echtheit, ohne die Kunst nicht gedeihen kann, ist geblieben. Zumindest lebt Chinas anspruchsvolle Literatur der gegenwärtig nicht aus sich heraus, aus dem Anspruch, nur Literatur sein zu wollen. Sie steckt voller Schmerzen, voller Grausamkeiten, voller Anklage und Anspielungen. Sie ist nicht nur Sprache und Schönheit sein, weil es zu viel Ungesagtes, Verborgenes, Verdrängter gibt. Allein das Seichte ist sich selbst genug.

Was also macht Chinas Literatur von heute interessant? Sie stellt, auf den Punkt gebracht, ein riesiges Experiment dar. Was China bisher fehlt, ist eine literarische Stimme, die der Welt etwas zu sagen hat. In der Gegenwart mangelt es China nicht an ökonomischer Kraft, sondern an kultureller Nachhaltigkeit: alles scheint im Moment des Entstehens zu verpuffen. In seiner Selbstwahrnehmung ist China ein altes Kulturland. Aber heute? Was es gibt, sind Eintagsfliegen. Kulturell und literarisch prägt China die Welt derzeit nicht; das Land weiß nicht, wo es steht, Selbstgewissheit Fehlanzeige. Jahrzehntelange Propaganda, Lüge und Zensur haben die Kulturszene verunsichert. China ist also nicht mit der Welt, sondern vielmehr mit sich selbst beschäftigt. Aber nur wenn Autoren ehrlich Innerlichkeit verspüren und ohne Angst schreiben, gewinnen ihre Bücher Individualität als Kunstwerke. Kreativität und Ethos als Künstler, nicht dem „System“, der Eitelkeit oder der Gier verpflichtet – das ist es, was die Künstler und Literaten in China brauchen. Einige Schriftsteller, deren Namen man sich für die Zukunft wird merken müssen, gibt es bereits: Yan Lianke, Yang Xianhui, Wang Gang (English: A Novel).

Suchbewegung

Chinas Gegenwartsliteratur ist interessant, insofern sie eine Herausforderung darstellt; weil zu spüren ist, dass sie sich auf der Suche befindet: nach Themen, nach einem Stil, nach einer Botschaft. Der Anspruch auf Erneuerung treibt die Suche voran – eine Abgrenzung von der eigenen Tradition und von dem, was es anderswo schon gibt. Es mag absurd klingen, aber China ist im Sinne des Wortes literarisch noch ein „Entwicklungsland“. In diesem Prozess hilft es wenig, immer nur die große Vergangenheit zu bemühen.

Das Land befindet sich politisch, kulturell und eben auch literarisch an einem Scheideweg, das Spektrum der Möglichkeiten ist breit. Chinesische Literatur lebt sich bisher im Probieren aus, was ihre Kurzlebigkeit erklärt. Der schon ökonomisch falsche Glaube, sich in einer ständigen Entwicklung hin zum Besseren zu befinden, ist auch in der Literatur ein Irrtum: Keine Schöpfung ist erzwingbar, Meisterhaftes lässt sich nicht planen. Wenn man heute nach „guter“ Literatur aus China sucht, findet man sie am ehesten dort, wo die Suche zu spüren ist, die an Grenzen führt; wo China am ehesten die Chance hat, bei sich selbst zu sein, wo Markt und Moden nicht den Ton angeben. Auch ohne jede Verordnung: Es sieht so aus, als werde Chinas Literatur noch eine Weile stumm bleiben.

Thomas Zimmer ist Sinologe und war von 2003 bis 2009 in der Leitung des Chinesisch-Deutschen Hochschulkollegs an der Tongji-Universität Shanghai. Ab Oktober doziert er an der Universität Köln über die Kultur Chinas

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