Ein Gebot des Abstands

Weichenstellung Die Lehren aus der Hartz-Debatte müssten lauten: Weg mit der sozialpolitischen Sanktionspraxis! Her mit einem flächendeckenden Mindestlohn!

Deutschland diskutiert – das Hartz-Urteil aus Karlsruhe, Guido Westerwelles unsägliche Verunglimpfung der Schwächsten und die Forderung nach einem Mindestlohn. Es geht um Gerechtigkeit, Menschenwürde und das Selbstverständnis der Gesellschaft. Doch wer die Debatte auf eine moralische Komponente reduziert, blendet die volkswirtschaftliche Weichenstellung aus, die mit der Frage gerechter Löhne verbunden ist.

„Wer arbeitet, soll mehr haben als der, der nicht arbeitet.“ Wie oft hat man diesen Satz in den vergangenen Jahren gehört? Selbstverständlich ist die Forderung nach einem Lohnabstand, die sich hier ausdrückt, richtig. Aus freien Stücken stehen schließlich nur wenige frühmorgens auf, um die Hälfte des Tages mit einer Tätigkeit zu verbringen, die nur selten etwas mit Erfüllung der Lebensträume zu tun hat. Wie bei fast allen Dingen im Leben, ist auch die Frage, ob - und wenn ja, wie viel - man arbeiten soll, eine der Abwägung. Um sich sein Leben durch materielle Dinge angenehmer zu gestalten und seinem Nachwuchs eine reelle Chance zu bieten, ist eine bezahlte Tätigkeit unumgänglich – allerdings muss die Entlohnung auch stimmen.

Kafkaesk mutet es da schon an, wenn die Meinungsführer in Politik und Medien den Lohnabstand durch eine weitere Senkung der Hartz-IV-Regelleistungen wieder herstellen wollen. Dies hätte lediglich den Effekt, dass mittelfristig auch die Einkommen im Niedriglohnsektor auf dieses Niveau fallen. Der Arbeitsmarkt ist kein normaler Markt, auf den die Regeln der klassischen volkswirtschaftlichen Lehre anwendbar wären. In einem solchen idealen System würde sich der Lohnabstand von selbst bilden, da Erwerbslose zu schlecht dotierte Angebote ablehnen und Niedriglöhner ihren Job kündigen, wenn der Abstand zu Hartz IV zu gering wird. Die Sozialgesetzgebung macht eine freie Entscheidung aber unmöglich. Schließlich wird ein Leistungsempfänger empfindlich bestraft, wenn er ein Angebot aus dem Niedriglohnsektor ablehnt.

Nie versiegender Nachschub

Warum sollte dann ein Arbeitgeber, der die Marktmacht hat, Niedriglöhne durchzusetzen, höhere Löhne bezahlen? Die Ämter sorgen schließlich mit ihrer Bestrafungspraxis für einen nimmer versiegen wollenden Nachschub aus dem Heer der Erwerbslosen. Wenn die Sanktionierungsmöglichkeiten, die einen elementaren Kern der Hartz-Gesetze darstellen, nicht abgeschafft werden, wird sich auf lange Sicht nie ein nennenswerter Lohnabstand herstellen lassen. Wenn es nach FDP-Chef Westerwelle ginge und der Hartz-Regelsatz abgesenkt würde, könnten die Arbeitgeber im Niedriglohnsektor ganz einfach ihre Löhne abermals drücken.

Wer diese Abwärtsspirale durchbrechen will, kommt um einen flächendeckenden Mindestlohn nicht herum. Schon eine eher niedrige Untergrenze von 7,50 Euro in der Stunde, wie er jetzt von der SPD vorgeschlagen wird, würde zumindest für Alleinstehende, kinderlose Partnerschaften und Kleinfamilien einen nennenswerten Lohnabstand zum Hartz-Niveau ausmachen.

„Wer arbeitet, soll mehr haben als der, der nicht arbeitet“ – mit einem Mindestlohn wäre dies der Fall. Wer eine solche Untergrenze mit dem Argument ablehnt, dies würde Arbeitsplätze gefährden, argumentiert im doppelten Sinne unredlich. Branchen, in denen Hungerlöhne gezahlt werden, stehen meist nicht im internationalen Wettbewerb – die Friseuse aus Hoyerswerda und die Kassiererin aus Wuppertal können nicht so einfach gegen billigere Arbeitskräfte aus Moldawien ausgetauscht werden. Der VW-Arbeiter in Wolfsburg steht dagegen zwar im internationalen Wettbewerb, bekommt aber auch einen Lohn, der sich weit oberhalb aller angedachten Mindestlöhne befindet.

Es mag durchaus sein, dass der eine oder andere Dienstleister, der nur aufgrund niedriger Löhne überlebt, nach der Einführung einer verbindlichen Untergrenze die Pforten schließen muss. Dies ist jedoch zu verschmerzen. Außerdem würde gerade eine solche Regelung lokalen Anbietern helfen. Wer leistet sich denn einen Haarschnitt beim Friseur? Ein Mindestlohn würde die Binnennachfrage steigen lassen, was langfristig der gesamten Volkswirtschaft zu Gute käme.

Die Rolle der SPD

Inzwischen hält auch der SPD-Vorsitzende Sigmar Gabriel einen gesetzlichen und flächendeckenden Mindestlohn „zumindest oberhalb von 7,50 Euro“ für notwendig. Die Sozialdemokraten liegen damit zwar ein wenig hinter dem Trend – der gewerkschaftliche Dachverband DGB plädiert mit Verweis auf europäische Länder für einen Mindestlohn von 8,50 Euro. Die nordrhein-westfälische SPD-Spitzenkandidatin Hannelore Kraft hat kritisiert, dass sich FDP und Union der Debatte über eine gesetzliche Lohnuntergrenze verweigern würden. Das ist zwar nicht falsch, schließlich hat sich zum Beispiel CDU-Ministerpräsident Jürgen Rüttgers in den vergangenen Tagen gegen die Forderung ausgesprochen.

Mit dem Hinweis auf die schwarz-gelbe Blockade lässt sich allerdings die Rolle der SPD bei der bisherigen Verhinderung eines Mindestlohns nicht vom Tisch wischen. Waren es nicht die Sozialdemokraten, die in der rot-grünen Regierungszeit stets eine generelle Lohnuntergrenze torpediert haben? Waren sie es nicht, die gegen jeden Gesetzesantrag, der dies verlangte, gestimmt haben? Es scheint fast so, als entdecke die SPD das Thema Mindestlohn immer nur dann, wenn sie ihn auch garantiert nicht umsetzen kann.

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