Viel Zeit hat sie nicht. Ein Workshop will organisiert, der Jahresbericht fertig gestellt werden. Und um fünf Uhr steht ein internes Treffen an. Hektisch zerrt Serap Azun eine Karte aus einer Ecke ihres Büros im Berliner Bezirk Kreuzberg. Dann setzt sich die Koordinatorin des Projektes „Kinderwelten“ an den Tisch, hält kurz inne und betrachtet Deutschland. Vier Kitas waren es zu Beginn, mittlerweile beteiligen sich 47, verteilt im ganzen Bundesgebiet. „Kinderwelten“ war das erste Projekt überhaupt, das sich mit vorurteilsbewusster Erziehung beschäftigte. Allein schon das sei ein Skandal, findet sich Azun. Warum ist vorher noch niemand darauf gekommen? Gerade im Kindesalter entstehen schnell Vorurteile. Wie sollen Erzieher das verhindern? Ein
Eine Frage, auf die Azun und ihr Team nach Antworten suchen. Nicht nur für Kitas, sondern auch für Schulen soll ein Konzept entwickelt werden. Eine Institution auf Bundesebene müsse geschaffen werden. Die Diplompädagogin hat noch viel vor. Doch wie es weiter geht, ist ungewiss. Über allem steht ein großes Fragezeichen, denn im August laufen die Fördergelder aus. Mit einer Verlängerung rechnet Serap Azun nicht mehr.Azuns „Kinderwelten“ ist eines von 179 Modell- und Aktionsprojekten, die drei Jahre lang im Rahmen des Förderprogramms „Vielfalt tut gut“ vom Bundesfamilienministerium finanziert wurden. 19 Millionen Euro jährlich zur Bekämpfung des Rechtsextremismus und zur Entwicklung von demokratischem Verständnis. Eines ist jedoch sicher: Vielfalt wird es in dieser Form nicht mehr gegeben. Die neue Ministerin für Familie und Jugend Kristina Schröder (CDU) will das Erbe ihrer Kollegin Ursula von der Leyen ausschlagen. Stattdessen wartet sie mit einem neuen Konzept auf: Nicht nur um Rechtsextremismus soll es in Zukunft gehen, sondern auch um Linksextremismus und Islamismus. Eine finanzielle Aufstockung des neuen, thematisch ausgeweiteten Programms ist nicht vorgesehen und wäre angesichts des wachsenden Staatsdefizits und der ab kommenden Jahr ihre Wirkung entfaltenden Schuldenbremse auch illusorisch. Der Spielraum wird also enger. Für die bisher geförderten Projekte beginnt nun der Überlebenskampf. Einige werden das kommende Jahr nicht erleben.Kein AushängeschildAuf die Frage, was sie von der Erweiterung des Konzepts hält, reagiert Azun wortlos. Ihre Geste sprechen für sich. Langsam zieht sie ihren Daumen an der Kehle entlang. Die Berlinerin weiß, dass ihr Projekt kompliziert ist. „Wir sind kein Aushängeschild für Politiker“, erklärt sie lakonisch. Azun hat jetzt die Puppe Anette auf ihren Schoss gesetzt und schildert ihre Arbeit. Über Anette sollen die Erzieher mit ihren Kindern kommunizieren. „Persona Dolls“ wie Anette haben eine eigene Biografie, kommen aus Afrika, tragen Brillen oder sind Rollstuhlfahrer. Im gemeinsamen Gespräch sollen die Kleinen lernen, dass alle Menschen Talente haben. Doch das kostet Zeit. „Vorurteile lassen sich nicht innerhalb weniger Jahre abbauen“, meint Azun. Schon gar nicht innerhalb einer Legislaturperiode.Das bevorstehende Ende des Förderprogramms wird nicht von allen Projektleitern kritisiert. Petra Zwaka sieht darin eher eine Herausforderung. Innerhalb von drei Jahren müsse es gelingen, regionale Partner zu gewinnen. Das bedeute zwar viel Überzeugungsarbeit, dafür müsse das Projekt aber auch transparent bleiben, sagt Zwaka. Die Leiterin des Jugendmuseums Schöneberg steht gerade vor einer Vitrine der aktuellen Ausstellung: ein Geschichtslabor für Kinder über Berlin im Kalten Krieg. Ihr Blick ruht auf einer Rolle Stacheldraht. „Die Kinder sollen zum Forschen angeregt werden“, erklärt die studierte Historikerin. Sie sollen lernen, selber Fragen zu stellen. Interessiert sich ein Kind für die Stacheldrahtrolle, kann es an einer bebilderten Wand danach suchen und herausfinden, warum und wo er wofür benutzt wurde. Zwakas Kollegen begleiten die Schüler im Alter von zehn bis zwölf Jahren und reichen Material weiter, damit sie immer tiefer in ein Thema eindringen können. „Im Idealfall merken sie gar nicht, dass sie sich mit Geschichte beschäftigen.“Langer Atem nötigUnweit der Vitrine proben fünf Schüler ein kleines Theaterstück: Eine westdeutsche Familie kommt vom Ostseeurlaub zurück, doch an der Grenze verweigert ein Schüler die Durchfahrt. Es fällt ihm schwer. Ein Grinsen kann er sich nicht verkneifen. DDR-Grenzsoldaten dürfen nicht freundlich gucken, beschweren sich seine Freunde. Zwaka beobachtet die Szene. Durch die Beschäftigung mit der Geschichte sollen die Kinder eine Beziehung zur eigenen Gegenwart aufbauen, beschreibt sie das Konzept. Gerade Migrantenkinder haben auf das Thema Mauerbau sehr interessiert reagiert. Die Trennung von Familien können sie auf ihr eigenes Leben zwischen zwei Kulturen übertragen, erklärt Zwaka und verfolgt die letzte Szene. „Soll die Familie noch in den Westen kommen oder lassen wir den Zuschauer im Ungewissen“, wird gefragt. Es bleiben nur noch fünf Minuten bis zur Aufführung. Die Kinder entscheiden sich für ein offenes Ende.Zwaka wendet sich wieder dem Geschichtslabor zu. „Auch wenn die Ausstellung verschwindet, haben wir neue Methoden gelernt“, ist sich die Leiterin gewiss. Und diese Methoden könnten beim nächsten Projekt wieder angewandt werden. Ob dafür allerdings auch im Rahmen des neuen Bundesprogramms Geld abfällt ist offen, im zständigen Ministerium wird noch über das Konzept gegrübelt.Der Jahresplaner endet im AugustFür Gabriel Fréville steht aber schon jetzt fest, dass die mühsam aufgebauten sozialen Strukturen bedroht sind. In dem Projekt „amira“ befassen sich Fréville und seine Kollegen mit dem aktuellen Antisemitismus insbesondere unter Jugendlichen mit Migrationshintergrund. „Das Problem hat viel Zeit gebraucht, um zu entstehen, und braucht ebenso lange zur Bearbeitung“, konstatiert Fréville. Gerade wird eine Stadtrallye organisiert. Jugendliche aus Kreuzberg sollen unter anderem Orte besuchen, bei denen teils große Berührungsängste vorherrschen: ein Schwulenmuseum etwa, oder eine Synagoge. Im Anschluss können sie über ihre Erfahrungen schreiben. Die besten Berichte werden belohnt.„Lernanreize schaffen“, nennt das Fréville. Wenn sein Projekt keine Finanzierung erhält, drohen entstandene Verbindungen zwischen Migrantenorganisationen und Jugendarbeitern wegzubrechen, prophezeit er. „Wir sind eine Nahtstelle. Ohne Nahtstelle, kein Gewand.“ Der Sozialpädagoge spricht aus Erfahrung. Seit 2001 arbeitet er mit jugendlichen Migranten. Im Alltag, in der Schule und bei Behörden erleben sie nur selten einmal, was Solidarität bedeuten kann. Frust entsteht – und bei der Suche nach einem Halt finden die Jugendlichen nicht selten den falschen. Antisemitismus sei zu einem „gefährlichen Weg“ geworden, mit der eigenen Ausgrenzung umzugehen, sagt Fréville. „Jude“ gilt mittlerweile als ein gängiges Schimpfwort. In solchen Fällen dürfen die Jugendarbeiter nicht anklagen, sondern müssen den kritischen Dialog suchen. Auch das erfordert viel Geduld und einen „langen Atem“. Ob dieser jedoch lang genug anhält ist ungewiss. Der Jahresplaner, der hinter Fréville an der Wand hängt, endet im August.