Am Anfang kommt bereits das Ende. Auf den ersten Seiten von Philip Roths neuem Roman Jedermann wird der namenlose Protagonist begraben, in den letzten Sätzen stirbt er unter dem Messer eines Chirurgen: "Er war nicht mehr, befreit vom Sein, ging er ins Nichts, ohne es auch zu merken. Wie er befürchtet hatte von Anbeginn." Schluss und Anfang fügen sich so nahtlos aneinander, der Roman ließe sich in einem endlosen Kreis lesen, ohne dass man dem Tod je entkäme - auch nicht lesenderweise.
Dazwischen spannt Roth in knappen Sätzen und direkten Worten den Bogen eines Lebens, das durch den gewählten Rahmen und die thematische Fixierung, dem Sterben immer schon näher ist als dem Lebendigen. Jedermann ist der Rückblick auf ein bemerkenswert durchschnittlich
enswert durchschnittliches Leben - als durchschnittliche Krankengeschichte. Untergebracht ist sie in einem schmalen Band von knapp 180 Seiten, dessen Umschlag aussieht wie ein Grabstein.Nach Roths letztem Buch, der groß angelegten Verschwörung gegen Amerika, seinem Tagtraum einer antisemitischen Verschwörung an der Spitze der Vereinigten Staaten, kommt nun also der Rückzug in die private Unüberschaubarkeit eines schwindenden Lebens. Oder anders gesagt: Vom Komplott gegen Amerika geht´s zum Friedhof - "Plot", wie die Grabparzelle auf englisch heißt. Das klingt nach bedrückender Lektüre - und ist es in mancher Hinsicht auch. Kein schwarzer Humor, keine erhabenen Gedanken zur menschlichen Vergänglichkeit und auch keine morbiden Schauer nehmen diesem Buch die durchdachte, unverschnörkelte Schwere.Unerbittlich gehören zu den Lebensstationen dieser Geschichte vor allem die chirurgischen Eingriffe, Spitalaufenthalte und andere Bedrohungen an Leib und Leben. Dazu zählen bei Roth sinnigerweise auch die Trennungen, Neuvermählungen und Flirts. In die Aufzählung eines Leistenbruchs aus Kindertagen, eines Blinddarmdurchbruchs und mehreren schweren Herzoperationen, mischen sich seine Paarungsgeschichten - darunter drei gescheiterte Ehen.In einer Deutlichkeit, wie noch selten in seinem an dieser Grundspannung zwischen Eros und Todestrieb nicht gerade armen Werk, lässt Roth den Eros unterliegen. Wer Altmännerfantasien befürchtet, kann weitgehend unbesorgt sein. Es herrscht in Jedermann eher die ernüchterte Klarsicht nach der Fantasie. Die letzte Ehefrau vor der großen Einsamkeit ist ein vierundzwanzigjähriges dänisches Fotomodell. Sie geht als "kleines Loch" in die Geschichte ein. Wie er schwer krank darnieder liegt, macht ihm das Model - für das er seine Frau Phoebe verloren hat - das Leben nur noch schwerer. Bei seiner Beerdigung ist sie nicht mehr dabei.Mit dem Zerfall des Körpers rückt das Erinnern in den Mittelpunkt. Das Wortspiel, das dem englischen Verb "to remember" innewohnt, ist im Deutschen "erinnern" nicht enthalten, "to remember" als wörtliches wieder-gliedern, die-Teile-wieder-zusammensetzen. Am Intensivsten sind diese imaginären Reparaturen in einer fast schon erotisch geladenen Fantasie des eigenen, braun gebrannten Knabenkörpers. Der sportliche junge Schwimmer wieder-gliedert sich zum sehnsüchtigen Bild im Kopf des alten Mannes, dessen Herz nur noch dank den Prothesenteilchen der modernen Medizin weiter schlägt. Zu den Erinnerungen an seine Kindheit gehört aber auch das Juweliergeschäft seines Vaters, "Jedermanns Schmuckladen", der so hieß, um die christliche Kundschaft nicht mit einem jüdischen Namen abzuschrecken."Ist er schwer krank? Stirbt er bald?" fragte sich die amerikanische Öffentlichkeit, als Everyman letztes Jahr herausgekommen war. Philip Roth musste einige Interviews geben, um zu beweisen, wer ein Buch über das Sterben schreibt, muss nicht notwendigerweise selber einen Fuß im Grab haben. Trotzdem. Der biographische Rest und Auslöser der Niederschrift sei der Tag des Begräbnisses seines Schriftstellerfreunds Saul Bellow gewesen, sagt Roth. Aber der Jedermann ist kein Schlüsselroman - weder über den letztes Jahr verstorbenen Bellow noch über Roth selber. Vielmehr ist Jedermann eine zeitgenössische Variante von Tolstois Sterbenovelle Ivan Iljitsch und kritische Umschrift der titelgebenden spätmittelalterlichen englischen "Moralitäten". Der Plot dieser Stücke war immer derselbe. Jedermann wird eines Tages völlig überraschend vom Tod besucht. Alles Weltliche wird zum Stolperstein auf dem Weg zur Erlösung in Gottes ewigem Reich. Buhlerei, Tod, Teufel, Güter und gute Taten treten als allegorische Figuren auf, sie locken, mahnen, verurteilen. Der Jedermann will Reue zeigen über sein ausschweifendes Leben und die angehäuften Reichtümer, er verzweifelt fast an seinen Sünden. Aufgeführt hat man diese Moralkeulen im 15. Jahrhundert auf Friedhöfen. Die berühmte deutschsprachige Bearbeitung des Jedermann von Hugo von Hoffmannsthal wird immer noch alljährlich in Salzburg gespielt, sie ist neben dem Rosenkavalier seine erfolgreichste Arbeit.Roths Jedermann verweigert sich nun aber in klarem Gegensatz zur mittelalterlichen und hoffmansthalschen "Moralität" jeder Symbolik und Ermahnung. Es fällt kein Wort des Trostes oder des Vertröstens zum Altwerden und Tod, das Jenseits und das Netz christlicher Glaubenssätze sind konsequent ersetzt durch das Fachvokabular der Medizin. Ein gebrochener Hiob ohne Gott, der in einem Wartezimmer sitzt und eine alte Frau mit unerträglichen Rückenschmerzen, denen kein Schmerzmittel mehr beikommt, sind zwar quasi-allegorische Figuren, jedoch ohne die Pointe des Exempels oder der Erlösung. Die Affäre mit dem "leinen Loch" kann Roths Protagonist nicht bereuen. Seine Krise ist der Verlust seiner erotischen Anziehungskraft, nicht die Zahl seiner "Fehltritte". Auch die zeitgenössische Mär vom wundersam entschleunigten Lebensabend wird entlarvt, die Alten in Roths Jedermann stehen alle unter dem Schock des viel zu raschen Entschwindens ihrer letzten Jahre: "Das Alter ist kein Kampf; das Alter ist ein Massaker."Nur, was bleibt vom menschlichen Leben übrig, wenn jede Metaphysik und Verklärung wegfällt? Oder einen Schritt weiter gefragt: Was bleibt von Roths Roman übrig, wenn man auch die ins Diesseits geklappten Transzendenzmomente, die Krankheiten und den Sex abzieht? Die Antwort darauf liegt in den drei großartigen Friedhofsszenen, die Roth in seinen Jedermann hineingelegt hat. Gräber und Begräbnisse ergeben den ungeschönten und nachhaltigen Reflexionsgrund dieses Romans.Zuerst Jedermanns eigene Trauerfeier, die als entzauberte Zusammenkunft geschildert wird - ohne die typischen Tagtraumelemente, die das eigene Ableben mit Pathos und ergreifenden Szenen ausschmücken. Alle nahen Menschen sind da, doch die entfremdeten Söhne bleiben auch an seinem Grab kühl. Sein Bruder Howie hält eine gute Abschiedsrede. Das wars. Die Beerdigung des Vaters steht für die Notwendigkeit der Erinnerung an die Toten - und eine sehr körperliche Trauerarbeit. Das Grab wird vollständig von den Trauernden zugeschaufelt, nicht bloß ein symbolisches Häufchen Dreck auf den Sarg geworfen. Und auch in der letzten Friedhofsszene erscheint das Grab als handfeste Arbeit. Wenige Tage vor seiner fatalen Operation redet der Protagonist mit dem Totengräber des Friedhofs, auf dem seine Eltern (und später auch er) begraben liegen. Es geht um das Ausstechen von Rasenvierecken, den Dreckaushub, detaillierte Friedhofpläne, Schwierigkeiten beim Graben von Hand. Seltsam beruhigt von all diesen technischen Angaben geht er nach Hause.Was bleibt also vom Menschen übrig, wenn man alles abzieht? Übrig bleibt nicht zuletzt die vom Sarg verdrängte Erde, die der Totengräber routiniert vor den Augen der Überlebenden verbirgt. Roths Jedermann ist der Versuch diese überschüssige Erde und damit den Tod entschlossen in den Blick zu nehmen.Philip Roth: Jedermann. Aus dem Amerikanischen von Werner Schmitz. Hanser, München 2006, 176 S., 17,90 EUR
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