Ein himmlischer Äther voll tiefer Gespräche

Szenario II Wenn das Netzgeplapper in der Pleite endet, finden die Bürgernetze der Zukunft wieder Bodenhaftung

Der Abschied von der schönen neuen Welt der Überkommunikation beginnt mit kaum beachteten Nachrichten in Online-Medien und Blogs. Immer mehr kleinen Firmen, die sich der Mode des „sozialen Internets“ verschrieben haben, geht das Geld aus. Denn natürlich haben sie an ihren Gratis-Webdiensten keinen Cent verdient – ihr Geschäft war nur eine Wette auf eine rosige Zukunft, wie damals zur Zeit der ersten Internet-Blase.

Dann ein Paukenschlag: Die Kommunikationsplattform Twitter, berühmt geworden für Milliarden – natürlich gratis – versendeter Kurznachrichten, die oft so gehaltvoll wie Klosprüche sind, findet keinen neuen Investor und wird kurzerhand von Google übernommen. Während im Netzfeuilleton noch erregt über Googles Zuwachs an Macht und Nutzerdaten debattiert wird, kommt die Lawine der Pleiten ins Rutschen. Wo gestern noch virtuelle Existenzen ihr Leben ausgebreitet hatten, ist plötzlich – nichts mehr.

Doch dann passiert etwas Merkwürdiges. Zwar steigen die Arbeitslosenzahlen in den westlichen Industrieländern unaufhaltsam. Betroffen sind gerade auch die Arbeiter der so genannten Wissensökonomie, die wie ein Fettauge auf der produzierenden Wirtschaft schwamm. Aber gleichzeitig schwillt auf den Webplattformen der verbleibenden Anbieter die Aktivität enorm an. Wie sich herausstellt, denken die Neuankömmlinge im Prekariat gar nicht daran, ihre Internetnutzung einzuschränken, denn die gilt ihnen inzwischen als ebenso unverzichtbar wie Strom und Trinkwasser. Stattdessen wird der zuvor überdrehte materielle Konsum hintangestellt.

Ein utopisches Raunen geht durchs Netz: Online-Communities, die vorher ohne jede Bodenhaftung durch den Cyberspace schwebten, teilen sich und docken nun verstärkt an lokale Initiativen in der Offline-Welt an. Die Cybergeografie gleicht sich innerhalb eines Jahres immer mehr der realen an. Zugleich entstehen, von unerschütterlichen Enthusiasten getragen, neue Webverzeichnisse, die wie Brückenköpfe zwischen den lokalen Inseln den Austausch von Knowhow vermitteln. Wikipedia erlebt einen unerhörten Boom.

Nur ein Strohfeuer? Der Zusammenbruch von Industrie und Finanzsektor, der inzwischen immer dramatischere Ausmaße annimmt, greift schließlich auch auf die digitale In­frastruktur über. Die ersten Mobilfunk- und Netzwerkbetreiber gehen Pleite, die Investitionen in neue Netzleitungen kommen mangels Krediten binnen Monaten zum Erliegen – wovor ausgerechnet der größte Telekommunikationskonzern AT bereits zu Beginn der Krise gewarnt hatte. Das erste Opfer ist die so genannte Netzneutralität: Die Netzbetreiber machen wahr, was sie bereits vor Jahren angedroht hatten, und belegen die Übertragung von Multimediainhalten mit großem Datenaufkommen mit Extragebühren. Das macht den meisten Multimedia-Anbietern bald den Garaus.

Während so die digitale Infrastruktur erstmals ins Stottern kommt, erhält eine zuvor obskure Bewegung enormen Zulauf: die „Freifunk-Netze“. Nicht nur in den Metropolen, auch andernorts schließen immer mehr Leute ihre Computer zu lokalen Maschennetzen zusammen, die nur über einige Knoten mit dem Internet verbunden sind. Antennen basteln und Router konfiguieren wird in kurzer Zeit zum Volkssport der jüngeren Generationen. Berlin ist eine der ersten Großstädte, in denen die gesamte Innenstadt mit einem zwar holprigen, aber immerhin selbst organisierten Netz überzogen ist, das wichtiges Knowhow für die Krise verfügbar hält.

Als es dann zum großen Zusammenbruch der industriellen Volkswirtschaften kommt, zerfällt die globale Infrastruktur endgültig: Übrig bleiben einige große ­Netze von Konzernen und Militär – und Zigtausende von selbst organisierten „Bürgernetzen“, zwischen denen ein Austausch nur mühsam gelingt. Weil die Produktion neuer Computer und Telefone zum Erliegen ge­kommen ist, sind überall Reparaturwerkstätten aus dem Boden geschossen. Die einst gestylte Informationstechnik hat sich der Bricolage in den Elektronikshops auf dem Markt von Addis Abeba angenähert.

Das Rauschen des „Web 2.0“ ist zwar verstummt, aber dessen Reste sind zum Nährboden für eine Renaissance lokaler Produktion und neuer Versuche in lokaler Demokratie geworden.

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