Ein Junge und ein Mädchen

Noch hat das Mädchen den Jungen nicht bemerkt. Es hockt an der Erde und schaut in eine andere Richtung, ringsum verstreut liegt die Kleidung. ...

Noch hat das Mädchen den Jungen nicht bemerkt. Es hockt an der Erde und schaut in eine andere Richtung, ringsum verstreut liegt die Kleidung.

Die Sandhügel leuchten weiß in der Sonne. Am Eisenbahnausbesserungswerk wird gebaut.

Die Schatten der Gebäude ragen in die Hügellandschaft hinein.

Hinter den Mauern des Backsteingebäudes gibt es eine Badeanstalt am Fluss. Das Mädchen ist geschwommen, hat im warmen Sand gelegen und danach Brombeeren gegessen. Von jenseits der Allee klingen die Geräusche des Rangierbahnhofs herüber. Der Wind bewegt die Blätter der Kastanien über den Holzlauben der nahen Kolonie.

Der Junge, der sich dem Mädchen still genähert hat, saugt den Geruch der Teerpappe, den Duft des Sommers ein. Er fährt mit dem Fuß durch hellgraue Erde. Wolken wirbeln auf. Der Staub legt sich auf seine nackten Knöchel. Mit gekrümmten Zehen greift der Junge nach einem Strunk verdorrten Heidekrauts.

Gestern ist er mit Mutter und Schwester in die neue Laube gezogen. Bruder und Onkel werden folgen. Die Laube ist kleiner, als der Junge gehofft hat. Aus dem Holz ragen Nägel. An einem reißt er sich Hose und Oberschenkel auf. Den Schmerz spürt er kaum. Das Blut trocknet ein, der Riss verschorft.

Blutet dem Jungen die Nase, dauert es länger, bis die Blutung gestillt werden kann. Mit einem kalten Tuch im Nacken sitzt er auf dem Wannenrand, verfolgt Rinnsale und Tropfen, wie sie das weiße Emaille mit einem Muster überziehen.

Nicht lange, und Flugzeuge bombardieren die Kolonie. Der Junge sammelt Bombensplitter. Ihm wird, vor Aufregung, die Nase bluten. Bruder und Onkel, Mutter und Schwester heben einen Graben aus, in dem sie dann ersticken.

Noch immer hat das Mädchen den Jungen nicht bemerkt. Mit braungebranntem Rücken und Steiß kauert es an der Erde. Die Füße wenig ausgestellt, stützt es die Ellenbogen auf die spitzen Knie.

Das Haar ist hellblond, kurzgeschoren. Kahle Bomme. Macht man wegen der Läuse. Erst hat der Junge das Mädchen für einen Jungen gehalten. Kein Junge hockt so im Sand.

Noch ist die S-Bahn, die elektrische, nicht in den Bahnhof eingefahren. Mit ihr kommt der Onkel und der ältere Bruder. Der Zug wird sich von Schöneweide her nähern. Der Junge wird ihn rechtzeitig hören. Ihm behagt die Vorstellung nicht, an dem Mädchen vorbeilaufen zu müssen, ohne vorher bemerkt worden zu sein. Die Brombeeren sind reif und glänzen in der Sonne.

Multbeeren, würde der Onkel sagen. Ein Angeber, der Onkel.

Der Junge zögert.

Er bohrt mit den Zehen in der Erde. Glatt sind die Wurzeln der Föhren. Glatt ist die Haut des Mädchens.

‚Nägel mit Köppen, Koppe!´

Dem Lehrer fehlt ein Arm. Er wippt auf den Ballen. Hin und wieder knackt er mit der Holzprothese, indem er sie mit der gesunden Hand umfasst und zu sich heranzieht.

‚Heiße Hoppe!´

Der Junge räuspert sich.

Als das Mädchen ihn hört, fährt es auf, dreht sich um, und der Junge erschrickt. Nie hat er ein Mädchen nackt gesehen, nicht einmal die ältere Schwester.

Ohne den Blick zu lösen, starrt er dem Mädchen auf die Beine. Nah den Brombeeren ist der Sand nass. Das Mädchen kommt dem Jungen älter vor als er.

Weder verschränkt es die Hände vor der Blöße, noch wird es rot. Innen am staubigen Oberschenkel rollt ein Tropfen herunter und hinterlässt eine Spur.

Das Mädchen muss schlucken. Es wirkt streng. Der Ausdruck in den Augen schüchtert den Jungen ein.

Dann bückt sich das Mädchen, rafft die verstreute Kleidung zusammen und verschwindet.

Auszug aus dem Roman Der Bruder, der demnächst bei Klett Cotta erscheint.

Michael Wildenhain, geboren 1958, lebt in Berlin. Zu seinen Werken gehören unter anderem: Die kalte Haut der Stadt (1991), Heimlich, still und leise (1994) und Erste Liebe Deutscher Herbst (1997).


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