Bosnien bricht auseinander“, meldeten die Agenturen, als die bosnischen Serben für Mitte Juni eine Volksabstimmung zum Ausstieg aus dem gesamtstaatlichen Justizwesen ankündigten. Solche Meldungen alarmieren die Welt in etwa jährlichem Abstand. Während Bosnien aber immer wieder in letzter Minute gerettet wird, tut das fragile Nachkriegsland unmerklich etwas, das es nicht in die Nachrichten schafft: Es verdampft. Sieben Monate nach der Wahl hat Bosnien noch keine Regierung. Gebraucht wird die tatsächlich nur zu dem Zweck, sich in der Europäischen Union aufzulösen. Sie muss die nötigen Anträge stellen, damit Bosnien-Herzegowina zu einem Beitrittskandidaten wird. Sie muss den Fragebogen beantworten und die Verhandlungen führen. Hat sie da
das hinter sich, wird kein Hahn mehr nach ihr krähen.Bosnien-Herzegowina steckt in einer Falle, aus der es auch bei gutem Willen auf allen Seiten nicht herauskommt. Es ist als Staat dreier Nationen verfasst – der bosniakischen, der serbischen und kroatischen. Weil Nationen ihrer Definition nach nicht überstimmt werden können, funktioniert das Land theoretisch etwa so wie eine internationale Organisation: Jede der drei hat ein Veto-Recht. Anders als internationale Organisationen ist Bosnien aber keine Willens-, sondern eine Zwangsgemeinschaft. Beide Umstände zusammen bewirken, dass es praktisch überhaupt nicht funktioniert. Das ist das Grunddilemma.Sieger und VerliererDie Konstruktion des Landes bringt es mit sich, dass theoretisch je zwei Nationen in beliebiger Konstellation die dritte überstimmen könnten: Serben plus Kroaten gegen muslimische Bosniaken, Bosniaken mit einer der beiden anderen Nationen gegen die dritte. Die wichtigste Konfliktlinie verläuft zwischen Bosniaken auf der einen und Serben wie Kroaten auf der anderen Seite. Als relatives Mehrheitsvolk haben die Bosniaken ein natürliches Interesse am Bestand des Staates und dem Funktionieren zentraler Institutionen. Serben wie Kroaten pflegen als Minderheit dagegen ein natürliches Interesse an möglichst viel Autonomie.Etwa ein Jahrzehnt lang bestand die Hoffnung, mit der Zeit könnte aus der Zwangs- doch noch eine Willensgemeinschaft werden. Die Hoffnung ist inzwischen zerstoben. Das hat mit dem Krieg zwischen 1992 und 1995 zu tun: Die lebendige Erinnerung an „ethnische Säuberungen“, die Belagerung von Sarajevo ab 1992 und das Massaker von Srebrenica 1995 fügten dem tektonischen Problem ein unlösbares moralisches hinzu. Die Bosniaken fühlen sich mit einigem Recht als moralische Sieger. Die Serben stehen vor der Welt – vor Bosniaken und Kroaten und insgeheim auch vor sich selbst – als moralische Verlierer da. In jeden Konflikt, in jede Verteilungsfrage und jede Posten-Besetzung spielt heute das moralische Ungleichgewicht mit hinein. Wie im sozialistischen Jugoslawien die Kroaten sind es im heutigen Bosnien die Serben, die sich immer verteidigen müssen. Die Kraftsprüche ihres Präsidenten Milorad Dodik übertönen eine tiefe Verunsicherung. Dass die bosnischen Serben es in diesem Klima nicht schaffen, sich mit der Kriegsgeschichte auseinanderzusetzen, muss niemanden wundernWenigstens das tektonische Problem des Landes war den Amerikanern bewusst, die 1995 mit dem Vertrag von Dayton die bosnische Nachkriegsordnung stifteten. Um aus der fatalen Dreierkonstellation eine übersichtliche Zweierkiste zu machen, zwangen sie Bosniaken und Kroaten in ein Sonderbündnis, die so genannte „Föderation“. Aber das moralische Problem machte es unmöglich, die Grundverfassung des Landes zu überwinden. Seit die Serben den Gesamtstaat nach Kräften ignorieren, bricht auch die Föderation auseinander.Kurz nach Ostern erhob ein informeller „Nationaler Landtag“ der Kroaten die Forderung nach einer „dritten Entität“ – nach einer Gleichstellung der Kroaten, die in der Föderation der vierfachen Zahl Bosniaken gegenüberstehen, mit den beiden anderen Nationen.Mündel der EU Wer es mit Bosnien gut meint, will den Gordischen Knoten irgendwie durchschlagen. Meistens wird daraus der Versuch, die nationalen Zugehörigkeiten vergessen oder bedeutungslos zu machen. Das funktioniert im alltäglichen Zusammenleben tatsächlich. Eine Grenze mit Pass- und Zollkontrolle zwischen der Republika Srpska und der bosnisch-kraotischen Föderation wollen auch die allermeisten Serben nicht, und alle sind froh über ihre ethnisch neutralen Auto-Nummernschilder. Aber immer dann, wenn Bosniaken, Serben und Kroaten sich als Nationen auf etwas einigen müssen, verhindert die Erinnerung an den Krieg, dass sie einander in die Augen schauen.„Belgien verdampft“, lautet die Formel der flämischen Separatisten: Wo es einerseits eine EU und andererseits funktionierende Regionen gibt, muss es ein Belgien gar nicht oder kaum mehr geben. Die Formel ist so wirksam, weil sie kein Schlachtruf ist, sondern einen Teil der Wirklichkeit beschreibt. Für den anderen Staat mit Anfangsbuchstaben B gilt das mindestens ebenso.Was Bosnien-Herzegowina an Integration und Freizügigkeit braucht, bietet auch die EU. An eine Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik ist auf bosnischer Ebene noch weniger zu denken als auf europäischer. Die Beitritts-„Verhandlungen“ verdienen ihren Namen nicht: Bosnien muss einfach den Acquis der EU übernehmen und den Anforderungen aus den Fortschrittsberichten der Europäischen Kommission gehorchen. Die Umsetzung der EU-Richtlinien in nationales Recht ist bloß eine juristische Formalität. In Wirklichkeit könnten die allermeisten Richtlinien auch unmittelbar gelten, also auch ohne dass ein bosnisches Parlament sie noch einmal feierlich nachbeschließt. So war es auch im Italien der Vor-Berlusconi-Zeit, als vor lauter Regierungswechseln und Neuwahlen keine kontinuierliche Parlamentsarbeit möglich war. Mit anderen Worten: Wenn Bosnien verdampft, wird es niemand vermissen. Außer denen, die sich über seine Entwicklungschancen Illusionen machen.