Ein Land, zwei Welten

Hartz IV Das Schicksalsprojekt von Rot-Grün scheidet die Geister - ein Streitgespräch zwischen Ministerialdirigent Rolf Schmachtenberg, FU-Professor Peter Grottian und ALG II-Empfänger Wolfgang Ratzel

FREITAG: Statt für Jobs zu sorgen, hat die Bundesregierung den Arbeitslosen das Geld gekürzt und ihre Rechte beschnitten. Können Sie, Herr Schmachtenberg, verstehen, dass Hartz IV so gesehen wird?
ROLF SCHMACHTENBERG: Vor der Polemik sollten die Fakten stehen. Wir haben jetzt ein zweistufiges System: ein beitragsfinanziertes für Kurzzeitarbeitslose und ein einheitliches, vollständig steuerfinanziertes System für all diejenigen, die entweder, weil sie langzeitarbeitslos sind, keinen Anspruch auf Arbeitslosengeld haben oder diese Ansprüche nie erworben hatten. Damit werden Sozialhilfeempfänger sehr stark an den Arbeitsmarkt herangeführt. Seit Jahresanfang offenbaren das die Arbeitslosenstatistiken deutlich. Diese Reform orientiert also ganz klar auf Arbeitsgesellschaft. Die neue Schnittlinie lautet: erwerbsfähig - ja oder nein. Wie bei jeder Reform ist das Leistungsniveau umstritten. Es gibt Verlierer und Gewinner. Bestimmte Personen werden schlechter gestellt. Das löst bei den direkt und indirekt Betroffenen natürlich erhebliche Verunsicherung und Widerstand aus. Aber es gibt auf der anderen Seite eben auch Gewinner. Vor allem die früheren Sozialhilfeempfänger profitieren von der Grundsicherung für Arbeitsuchende und der Eingliederung in die Sozialversicherung.

Herr Ratzel, Sie sind selbst von Hartz IV betroffen und organisieren eine Erwerbsloseninitiative. Was hat sich seit Anfang 2005 verändert?
WOLFGANG RATZEL: Vor der Polemik die Fakten. Das will ich gern aufgreifen. Mit Hartz IV wird in diesem Land eine neue Klasse der Einkommensarmut geschaffen - das ist das wichtigste Faktum. Miete und Heizungskosten werden erstattet. Weil aber andere Wohnnebenkosten selbst zu tragen sind, bleiben einem Alleinstehenden vom Arbeitslosengeld II effektiv nur etwa 300 Euro Bareinkommen. Wer damit auskommen muss, befindet sich in einem Zustand zwingender Not, die den gesamten Alltag strukturiert. Zum Beispiel kann sich unsere Selbsthilfegruppe niemals in einer Kneipe treffen. Wie sollten wir die Getränke bezahlen? Und mit dem Wirt eine Konsumverzichtsvereinbarung zu treffen, ist unter unserer Würde. Ein anderer Punkt ist: Wir sind keine Individuen mehr, nur noch Bedarfsgemeinschaften mit einer BG-Nummer. Selbst ich als Alleinstehender habe eine BG-Nummer. Das heißt, wir werden entindividualisiert. Eine Frau aus unserer Gruppe, deren Partner 50 Euro zu viel verdient, hat keinerlei eigene Ansprüche mehr. Nicht per Verfassung, sondern durch die realen Folgen von Gesetzen, Anordnungen und Ausführungsvorschriften werden grundlegende Bürgerrechte deaktiviert. So ist mit Hartz IV eine neue Klasse entstanden: einkommensarm, entindividualisiert und arbeitspflichtig.

Zu den schärftsten Kritikern von Hartz IV gehört Peter Grottian. Welche Folgen sind erkennbar, nicht nur für die Betroffenen, sondern für die Gesellschaft insgesamt?
PETER GROTTIAN: Agenda 2010 und die Hartz-Gesetze sind zunächst vor allem eines: ein gigantisches Täuschungsmanöver mit einem nirgends eingelösten Wachstums-, Beschäftigungs- und Sozialversprechen. Das Wachstumsversprechen ist völlig irreal, Beschäftigungschancen sind nicht zu sehen, und die Versicherung, dass es gerecht zugehe, wird weit über den Kreis der Betroffenen hinaus als blanker Hohn empfunden. Auch die Vermittlung durch die Agentur für Arbeit ist nicht besser geworden. Und nun wird das neue System für den Steuerzahler auch noch teurer. Was angesichts dieser falschen Verheißungen und sichtbaren Fehlschläge bleibt, ist allein die Demütigung von Menschen, die in ihrer Arbeits- und Lebenssituation deklassiert werden. Rot-Grün und Schwarz-Gelb sind doch im Grunde völlig ratlos, was sie jenseits von Hartz machen sollen, wie sie aus den Sackgassen der Arbeitmarkt- und Sozialpolitik herauskommen können. Politik im eigentlichen Sinne wird abgeschafft.

Wie reagiert der Ministerialbeamte auf dieses Urteil von Peter Grottian?
ROLF SCHMACHTENBERG: Meines Erachtens ist es viel zu früh, Bilanz zu ziehen. Peter Grottian hat völlig zu Recht darauf hingewiesen, dass die Vermittlung noch nicht gut läuft. Das liegt aber auch daran, dass der Kompromiss, den Bund und Länder bei Hartz IV vereinbart haben, sehr kompliziert ist und dadurch die Umsetzung der neuen Leistungen behindert. Im Moment versuchen die beteiligten Behörden, sich einen gangbaren Weg zu bahnen. Trotzdem sollte man eines nicht vergessen: Die Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe ist ein kühner Versuch, erstmalig in Deutschland die unterste Verwaltungsebene mit der oberen - also Kommunal- mit Bundesverwaltung - in einer neuen Form zu integrieren und auch Kompetenzen zusammenzubringen. Ein so ehrgeiziges Projekt braucht Zeit. Außerdem sollten die Kritiker eingestehen: Wenn das Arbeitslosengeld II teurer wird als erwartet, dann kann von Sozialabbau keine Rede sein.

Dass Hartz IV teurer wird als erwartet und gleichzeitig Sozialabbau bedeutet, ist kein Widerspruch. Die Mehrkosten gehen vor allem in den kafkaesk aufgeblasenen Verwaltungsapparat.
ROLF SCHMACHTENBERG: Das stimmt nicht. Mehr Mittel als erwartet müssen für Geldleistungen und SV-Beiträge aufgebracht werden. Und dass für die Betreuung der Arbeitslosen in den Arbeitsagenturen und Jobcentern mehr gemacht wird, ist notwendig und sinnvoll. Hinsichtlich des Leistungsniveaus gibt es auch individuelle Belastungen, keine Frage. Aber es gibt nicht nur Verlierer. Wer früher beispielsweise Arbeitslosenhilfe bekam und trotz Anspruchsberechtigung keinen Antrag auf Wohngeld gestellt hatte, bekommt jetzt automatisch Leistungen für die Unterkunft. Ebenso wurden Anträge auf ergänzende Sozialhilfe häufig nicht gestellt. Insgesamt hatte die frühere Sozialhilfe sehr viel restriktivere Anrechnungsvorschriften als das jetzige Arbeitslosengeld II, sowohl beim Vermögen als auch beim Partnereinkommen. Mit den in das System eingebauten Automatismen haben wir eine einheitliche Grundsicherung für Arbeitsuchende geschaffen. Der Effekt, den Herr Ratzel nennt, die Bildung einer neuen Klasse, ist in diesem Sinne zwangsläufig, weil in der Tat alle diejenigen, die erwerbsfähig und von Fürsorgeleistungen abhängig sind, in einer Gruppe zusammengefasst werden. Sie werden aber nicht mehr stigmatisiert wie früher die Sozialhilfeempfänger. Das ist ein großer sozialpolitischer Fortschritt.

WOLFGANG RATZEL: Dass bisherige Sozialhilfeempfänger in die Arbeitsvermittlung einbezogen werden, ist ein formaler, aber kein wirklicher Fortschritt. Wenn Leute einen Vollzeitjob finden, dann über Eigenbemühungen, nicht über das Jobcenter. So erlebe ich das in unserer Selbsthilfegruppe. Wer von Verlierern und Gewinnern redet, muss doch zunächst erkennen, was die beiden großen Gruppen erleben, die jetzt beide unter das ALG II fallen, also einerseits die ehemaligen Arbeitslosenhilfebezieher und andererseits die als erwerbsfähig eingestuften Sozialhilfeempfänger. Die einen erleben ihren Abstieg, und die anderen sagen, es ist praktisch genauso wie vorher. Im Grunde sind wir jetzt alle Sozialhilfeempfänger mit einem theoretischen Vermittlungsanspruch. Wirkliche Gewinner der Reform sind diejenigen, die früher außerhalb der staatlichen Systeme Gelegenheitsjobs hatten und jetzt froh sind über eine gewisse Grundsicherung. Und es gibt - da hat Herr Schmachtenberg Recht - auch Personen, die nun plötzlich mehr Geld auf dem Konto haben, weil sie früher die ihnen zustehenden Leistungen nicht beantragt haben. Diese beiden kleinen Fortschritte ändern aber nichts daran, dass die Pauschalsätze des ALG II viel zu niedrig sind, um davon menschenwürdig leben zu können.

ROLF SCHMACHTENBERG: Die Regelsätze sind vom Bundessozialministerium auf der Basis des Sozialhilferechtes errechnet worden. Nach den Untersuchungen des Warenkorbs im unteren Einkommensbereich kann man davon leben. Da verlasse ich mich auf die Einschätzungen der Kollegen.

PETER GROTTIAN: Aber dieser Warenkorb hat mit einem würdigen Leben nichts zu tun. Und deshalb ist die Angst vor sozialer Deklassierung enorm gestiegen. Was es bedeutet, arbeitslos zu werden und ein Jahr später auf das Armutsniveau von Hartz IV runterzufallen, ist doch mittlerweile Millionen Bürgerinnen und Bürgern klar geworden.

ROLF SCHMACHTENBERG: Die Angst wird aber auch geschürt, indem Sachverhalte schlicht falsch darstellt werden. Für den Übergang vom Arbeitslosengeld I in das steuerfinanzierte Arbeitslosengeld II gilt ein Stufenmodell, das die finanziellen Auswirkungen abfedert.

PETER GROTTIAN: Richtig, aber diese kleine Abfederung ändert nichts daran, dass die Angst, eine einigermaßen angemessene Basis für die eigene Existenz zu verlieren, begründet ist. Die Vorstellung der Bundesregierung - wir setzen stärkere Anreize, Arbeit aufzunehmen und das Wirtschaftswachstum sorgt für Jobs - ist doch irrsinnig. Selbst wenn es ein gegenwärtig utopisches Wachstum von drei Prozent gäbe, würden die Unternehmen die von Rot-Grün geschaffenen Instrumente vor allem für die Schaffung von Minijobs und anderen niedrigbezahlten Arbeitsplätzen nutzen. Ohne Wachstum aber bleibt von Hartz IV nur die Drangsalierung der Arbeitslosen und die Einschüchterung der Beschäftigten. Langfristig brauchen wir ein Grundeinkommen für Erwerbslose, das diesen Namen verdient, und als Zwischenschritt dahin eine massive Aufstockung der Pauschalsätze des ALG II. Vor allem brauchen wir eine große Debatte über gesellschaftlich sinnvolle Arbeit. Denkbar wäre ein "Arbeitsmarkt von unten", in dem zwei Millonen Menschen zu mindestens zehn Euro je Stunde an Projekten arbeiten, die sie für sinnvoll halten. Warum nicht ein solches Ermutigungsprogramm wagen?

Kann nach Ihren Erfahrungen, Herr Ratzel, Hartz IV in dem von Peter Grottian genannten Sinne gedreht werden?
WOLFGANG RATZEL: Paradoxerweise geht ja Hartz IV etwas in die Richtung, die Peter Grottian skizziert hat. Die Ein-Euro-Jobs werden im Gemeinwohlbereich geschaffen. Aber diese an sich richtige Perspektive ist eingebettet in Not, Zwang und bürokratische Fremdbestimmung. Weil fast niemand mit 345 Euro auskommen kann, werden die Tätigkeiten mit "Mehraufwandsentschädigung", also die Ein-Euro-Jobs, angenommen. Für mich ist entscheidend, dass diese Gemeinwohlarbeit nicht nur besser bezahlt wird, sondern auch in eigener Regie und auf einer verlässlichen gesetzlichen Grundlage organisiert werden kann. Diese Selbstorganisationsperspektive, die ich vertrete, müsste von der Politik gestärkt werden.

ROLF SCHMACHTENBERG: Bevor man nach Notlösungen öffentlich geförderter gemeinnütziger Arbeit sucht, sollte man sich das Grundproblem nochmals vor Augen führen. Im Unterschied zu meinen beiden Gesprächspartnern halte ich es nicht für ausgeschlossen, dass jeder in dieser Gesellschaft auch einen anständigen Anteil an bezahlter Arbeit haben kann. Dass wir in Deutschland deutlich niedrigere Erwerbsbeteiligungsquoten haben als zum Beispiel die skandinavischen Länder, ist keine zwangsläufige Entwicklung. Auch in der Schweiz wird eine Quote von etwa 80 Prozent erreicht, während wir bei 65 bis 67 Prozent liegen. Nötig wäre ein anderes Verständnis von Lebensarbeitszeit, ein anderer Umgang mit Erziehungszeiten, ein System von Steuern und Abgaben, das den Faktor Arbeit entlastet. Ich will mit diesen Beispielen darauf hinweisen, dass es eine ganze Reihe von Parametern gibt, die man im Interesse einer höheren Erwerbsbeteiligung ändern könnte und die nicht vom Wachstum abhängig sind. Wir ermuntern zu wenig, wir frustrieren uns gegenseitig.

PETER GROTTIAN: Lieber Herr Schmachtenberg, nun stellen Sie sich vor, Sie stehen auf einem großen Marktplatz und müssen die Politik der Bundesregierung verteidigen. Am Ende Ihrer Rede wollen Sie den Menschen Mut machen. Aber womit denn, frage ich Sie. Meine These ist, Sie ermuntern gar nicht. Sie disziplinieren. Sie machen die Leute runter. Sie versperren die Möglichkeit gesellschaftlich sinnvoller Arbeit auch dadurch, dass Sie Zwangsrekrutierung mit Billigtarifen betreiben. Es würde Sie gar nicht so fürchterlich viel kosten, die verschiedenen Bestandteile des ALG II - also Wohngeld, Pauschalsätze und Mehraufwandsentschädigungen - in reguläre Zehn-Euro-Jobs zu verwandeln. Aber noch nicht einmal das machen Sie. Statt dessen zauberte Ihr Minister Clement die Idee aus dem Hut, 600.000 Ein-Euro-Jobs schaffen zu wollen, weil er merkte: Hoppla, mit marktvermittelter Arbeit kommen wir nicht weiter, wir brauchen zusätzliche Maßnahmen, um überhaupt Effekte vorzeigen zu können. Statistik frisieren als letzter Rettungsanker. Sie müssen lebenswerte Perspektiven bieten - darauf kommt es an.

WOLFGANG RATZEL: Im Frühjahr hat Herr Schmachtenberg selbst öffentlich gesagt, dass es genug zu tun gibt, wenn man die großen Zukunftsherausforderungen bewältigen will. Er nannte Klima, Wasser und Hunger. Sie haben zwar nicht erwähnt, dass die große Katastrophe der Kapitalverwertungsprozess ist, aber Sie haben zumindest wichtige Aufgaben beschrieben. Auch im Lande selbst sei vieles Schrott: von der Wasserleitung bis zum Bildungssystem, von der Infrastruktur bis zur Kinderbetreuung. Wir können es geschehen lassen oder anpacken - so lautete anschließend Ihre Aufforderung. Wenn es also genug zu tun gibt, warum wird dann nicht in großem Stil Arbeit im Sinne des Gemeinwohls organisiert?

ROLF SCHMACHTENBERG: Ich verstehe Ihre Ungeduld, aber Sie müssen auch sehen, was in der politischen Landschaft der Bundesrepublik Deutschland durchsetzbar ist und was nicht. CDU/CSU und FDP haben noch niedrigere Leistungsniveaus und schärfere Zumutbarkeitsbedingungen gefordert. Ich will gern eingestehen, dass es gut wäre, für bestimmte gesellschaftliche Arbeiten auch reguläre und anständige Finanzierungen auf den Weg zu bringen und nicht nur solche über Ein-Euro-Jobs.

PETER GROTTIAN: Regulär und anständig finanziert - an diesen Grundsätzen hätten sich Sozialdemokraten und Grüne orientieren sollen. Mit Repression und Erniedrigung hat man auch bei Wahlen keine Chance.

Das Gespräch moderierte Hans Thie

Die Erwerbslosenselbsthilfegruppe von Wolfgang Ratzel ist zu erreichen unter: selbstbehauptung@arcor.de


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