Ein Leben ohne Papiere

Flucht Calais ist eine Anlaufstelle für viele Flüchtlinge aus Afrika. Ihren Alltag ohne Aufenthaltsgenehmigung zeigen nur wenige gerne. Diese hier haben es gewagt

„Ich habe nichts,“ sagt Noory. Das stimmt, er hat tatsächlich kaum etwas, außer dem, was er am Körper trägt: Ein paar extra Schuhe, einen Schlafsack aus der Altkleidersammlung, ein Handy. Letzteres liegt zwei Meter entfernt von uns auf einem kleinen Tisch und lässt abwechselnd Koran-Gesänge und Noorys großes Idol Bob Marley aus den Lautsprechern erklingen.

Noory ist „illegal“ hier. Vor Krieg und Armut in seiner sudanesischen Heimat Darfur geflohen, lebt er in Frankreich ohne Aufenthaltsgenehmigung, ohne Asyl und somit ohne Aussicht auf Arbeit, Bildung oder Sozialhilfe. Er ist einer der Gesichtslosen Europas – einer von rund 500 allein hier in der Hafenstadt Calais.

Tausende von Migranten ohne Dokumente aus zahlreichen Ländern stranden auf ihrer Odyssee ins gelobte Land Großbritannien in der französischen Hafenstadt. Weiter will man sie nicht lassen, und hier haben will man sie auch nicht. Schon 2002 wurde das maßlos überfüllte Auffanglager des Roten Kreuzes auf staatlichen Druck hin geschlossen. Auch für die daraufhin entstandenen inoffiziellen Zeltstädte gab es kein Pardon; 2009 räumte die Polizei den größten improvisierten Slum, der zeitweise über tausend afghanische Flüchtlinge beherbergt hatte.

Heute verteilen sich die Sans-Papiers (franz. die „Papierlosen“) auf die ganze Region. In kleinen Gruppen leben sie auf der Straße, in den Parks, in verfallenen Gebäuden oder sogenannten „Jungle-Camps“ in Wäldern und Dünen. Im Westen von Calais, am Rande des Bahnhofsviertels, steht das „African House“, ein alter Industriekomplex, der überwiegend von Sudanesen bewohnt wird. Hier lebt auch Noory – ohne Strom, ohne Wasser, in einer halb verfallenen, feuchten Fabrik zwischen Müllbergen und Räumen, die mangels Toilette mit menschlichen Exkrementen übersät sind. Eine dritte Welt mitten in der Ersten.

Doch das ist nur die eine Geschichte – die andere ist die der Helfer. Sie setzen sich für die Sans-Papiers von Calais ein, obwohl sie damit immer wieder anecken. „Illegalen“ zu helfen ist in Frankreich, wie in vielen Ländern der EU, verboten – schon einen von ihnen im Auto mitzunehmen, kann als „Beihilfe zur illegalen Einreise“ gewertet und bestraft werden.

Neben einigen humanitären Organisationen gibt es da die Calais Migrant Solidarity – ein Graswurzel-Netzwerk junger, grenzkritischer Aktivisten. Sie dokumentieren Polizeiaktivitäten, springen ein, wenn eine der täglichen Essensausgaben auszufallen droht, und sind dort zur Stelle, wo das Engagement anderer Gruppen aufhört. Manche der Aktivisten sind schon mal handfest dabei, wenn es darum geht, leer stehende Gebäude für die Sans-Papiers zu erschließen.

Diese komplexe Situation – „illegales“ Leben in einem Ballungsraum unter staatlicher Repression, aber auch mit praktischer Solidarität – darzustellen war mir schon lange ein wichtiges Anliegen. Die Thematik „illegale Migration“, dieser Kratzer an der Heile-Welt-Fassade Europas, findet trotz ihrer anhaltenden Dramatik kaum Beachtung in der Öffentlichkeit. Wenn man mal etwas hört, dann meist nur über Bootsflüchtlinge im Mittelmeer. Die EU-Kernstaaten waschen ihre Hände in Unschuld.

2010 unternahm ich, zusammen mit dem Frankfurter Fotografen Philip Eichler, eine erste Reportage-Reise nach Calais. Danach hatte ich zwar einige gute Fotos, allerdings nicht das Gefühl, die Geschichte umfassend genug erzählt zu haben, deshalb machte ich mich im Sommer 2011 erneut auf den Weg an den Ärmelkanal. Um die Geschichte in ihrer Vielschichtigkeit erzählen zu können, beschloss ich die klassische Foto-Reportage um ein weiteres Medium zu ergänzen. Das Ergebnis ist die Audio-Slideshow „Stadt der Gesichtslosen“.

Knappe drei Wochen lang begleitete ich dafür die Aktivisten der Calais Migrant Solidarity auf ihren Streifzügen durch den Untergrund von Calais. Durch Jungle-Camps in Wäldern und Dünen, durch verlassene Industriekomplexe am Rande der Stadt. Es war nicht immer leicht; wer in der Illegalität lebt, will nicht unbedingt fotografiert werden. Trotzdem wurde ich oft genug mit offenen Armen empfangen – ausgerechnet von denen, die selber nur auf verschlossene Türen treffen.


Stadt der Gesichtslosen – Die "Illegalen" von Calais from Chris Grodotzki on Vimeo.


Chris Grodotzki, 23, ist Teil der Fotografen-Kooperative visual.rebellion und Mitherausgeber des gleichnamigen Blogs.

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