Ich habe mir 2.000 Dollar von Mohsen Mahkmalbaf geliehen, um meinen ersten Kurzfilm zu drehen", berichtet der afghanische Regisseur Razi Mohebi. Kurz darauf sei er auf der Straße in Kabul zusammengeschlagen worden. Die Angreifer stahlen ihm 1.000 Dollar. Mit ruhiger Stimme, fast belustigt erzählt Mohebi, wie er daraufhin private Dinge verkaufte, um seinen Kurzfilm Kite vorzubereiten. Abermals wird ihm alles gestohlen, wieder leiht er sich Geld, denn er will in seinem Film über einen verschuldeten Taliban, der den Kindern im Dorf verbietet, Drachen steigen zu lassen, zeigen, dass nicht die Menschen schlecht sind, sondern die Umstände. Kite war einer von rund 50 Filmen des Programms Kabul/Teheran 1979 ff, das im Dezember in der Berliner Volksbühne zu sehen war und erstmals in Deutschland einen Überblick über das afghanische Filmschaffen bot. Die formale Qualität der afghanischen Kurzfilme, die seit dem Sturz der Taliban in Kabul entstanden, mag zu wünschen übrig lassen, aber der unbedingte Wille, sich unter widrigsten Umständen künstlerisch Gehör zu verschaffen, ist allenthalben zu spüren: Hier schlägt nach 23 Jahren Krieg die Stunde Null einer neuen afghanischen Filmgeschichte. Im Ausland wieder wahrgenommen zu werden, einen Raum zum Sprechen zu bekommen und internationale Verbindungen zu knüpfen ist lebensnotwendig für den Neuanfang. Der derzeit einzige afghanische Filmemacher mit einer eigenen Filmsprache und einer ästhetischen Vision ist Siddiq Barmak. Sein Film Osama, der erste Spielfilm seit dem Sturz der Taliban, kommt nun in unsere KInos. Er erzählt das Martyrium eines Mädchens in Kabul während der Terrorherrschaft der Taliban. Ihre alleinstehende Mutter beschließt, das Mädchen als Jungen zu verkleiden, um das Überleben der Frauen zu sichern. Erst als Junge bekommt das Mädchen einen Namen, Osama, und wird mit den anderen Jungen zum Besuch der Koranschule gezwungen. Doch in der Atmosphäre permanenter Bedrohung verschafft der Rollenwechsel Osama keine Erleichterung. Der neu gewonnene Bewegungsspielraum macht auch Angst. Nur einen kurzen Moment lang offenbart uns der Film so etwas wie Glück. Während einer Schulpause steht Osama zwischen wild und fröhlich spielenden Jungen. Ein kurzes Lächeln, das einzige des ganzen Films, erhellt ihr Gesicht. Scheu, zerbrechlich und mit Augen voller Geschichten steht sie stumm da, eine Metapher für ihr geschundenes Land. 3.400 Mädchen hatte Barmak in Schulen, Waisenhäusern und Flüchtlingslagern getroffen auf der Suche nach seiner Hauptdarstellerin. Schließlich begegnete er Marina Golbahari, die vor einem Kino in der Innenstadt bettelte. Auch alle weiteren Rollen sind mit Laien besetzt. Taliban spielen Taliban. "Mein Thema braucht die Laien. Sie sind sehr natürlich und sie sind Teil der Geschichte." Ein Hauch von Widerstand ist selbst in dem sozialen Alptraum, den der Film erzählt, noch möglich: Sei es, wenn ein Bekannter dem Kind einen Job beschafft oder in der Nachbarschaft eine fröhliche Hochzeitsfeier mit Tanz und Musik stattfindet. Beim Ruf "Taliban kommen!" verwandelt sich das Fest im Nu in eine Totenklage, misstrauisch inspiziert von der Religionspolizei. Die Tragikomik wird unterstützt von der poetischen Filmsprache des iranischen Kameramanns Ebraham Ghafouri (Reise nach Kandahar). Geprägt von Symbolismus und surrealistischen Elementen ist die ästhetische Nähe zum iranischen Film unverkennbar. Den eindrücklichen Auftakt des Films bildet die Demonstration von Hunderten von Frauen in Burka, eine wogende blaue Masse unsichtbaren Protests, die brutal von den Taliban auseinandergetrieben wird. "In einem Land wie Afghanistan verlangt es eine Menge Mut, Frauen zu fragen, ob sie in einem Film spielen wollen", so der Regisseur. "Aber als am ersten Tag der Dreharbeiten 880 Frauen in Burka kamen, dachte ich: Das ist die Revolution. Diese Gesellschaft wird sich ändern." Als Zuschauer verfolgen wir diese Szene durch die Kamera eines ausländischen Journalisten, der zunächst unsichtbar bleibt und der viel später im Film fast beiläufig zum Tode verurteilt werden wird. Die Koranschule wird für Osama zur Tortur. Sie beherrscht die Verhaltensregeln der Männerwelt nicht, ihre Hände sind zu zart, ihre Stimme zu hoch. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis ihre Verkleidung auffliegt. Dem Todesurteil des Scharia-Gerichts entgeht sie durch die Zwangsheirat mit einem alten Mullah. Diese unverhohlene Kritik brachte Barmak den Vorwurf des Anti-Islamismus ein. Doch er weist scheinheilige Sittenwächter vehement zurück. "Mein Film erzählt von idiotischen Traditionen, die in Afghanistan gepflegt werden, aber mit dem Islam nichts zu tun haben. Er zeigt, wie einige Leute den Islam missbrauchen, um ihre eigenen Interessen durchzusetzen." Die Taliban fürchtet Barmak in Kabul nicht mehr. "Wenn zur Zeit in Afghanistan etwas passiert, weiß ich, wer die Urheber sind: pakistanische Militärs und Geheimdienste." Als mit Osama im letzten Jahr in Cannes zum ersten mal ein afghanischer Spielfilm zu sehen war, bewirkte er ein kleines Wunder: Es gab standing ovations und mehrere Preise. Barmak ist davon überzeugt, dass Filme die Kultur der Waffen und des Krieges ersetzen und im Demokratisierungsprozess von Afghanistan mit einer Analphabetenquote von rund 85 Prozent eine entscheidende Rolle spielen können. So entstand die Idee des mobilen Kinos. Mehrere "Reeducation"-Filme zu Themen wie Landminen oder ärztliche Versorgung von Frauen touren bereits seit dem Frühjahr in vielen Provinzen des Landes und wurden auch beim Berliner Festival Kabul/Teheran 1979 ff präsentiert. Einen anderen Film Barmaks, seinen Kurzfilm The Invasion File (1997) - ein Propaganda-Film für Massud - hatte man vorsorglich aus dem Programm genommen, nachdem die Gemüter von Exil-Afghanen sich bei der bereits in Karlsruhe gelaufenen Filmreihe so erregt hatten, dass die Veranstaltung aus dem Ruder zu laufen drohte. Auch in Berlin kam es allenthalben zu passionierten, teils aggressiven Statements, die deutlich machten, wie schwierig die Auseinandersetzung der Afghanen mit ihrer jüngsten Geschichte ist. Zu nah ist das individuell Erlebte, zu komplex die Wirren des jahrzehntelangen Kriegs. Dabei wirkten die Gäste aus Kabul oft merklich gelassener als mancher Exil-Afghane. Propaganda - egal von welcher Seite - betrieben fast alle afghanischen Newsreels und Filme; eklatantes Zeichen für die undankbare Rolle des Landes im großen Spiel der Supermächte, das bis heute anhält. Osama weist da einen hoffnungsvollen, neuen Weg.
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