An der Filmhochschule Babelsberg schloss Andreas Kleinert vor zehn Jahren sein Studium mit einer Diplomarbeit über "Bewusstseinsebenen in der Filmpoesie von Andrej Tarkowski" ab. Wer die Filme des Regisseurs vom Jahrgang 1962 kennt, wird sich über diese Themenwahl nicht wundern. Da trafen sich verwandte Seelen. Schon Kleinerts Studentenfilme zeichneten sich durch eine sehr eigene Bild- und Tonsprache aus, wichen stofflich und ästhetisch vom damals Üblichen ab. Sein Abschlussfilm Leb wohl, Joseph gewann 1989 den Hauptpreis beim Internationalen Festival der Hochschulen in München und wurde für den Studenten-Oscar Los Angeles nominiert. Kleinert blieb auch unter den veränderten Bedingungen nach der "Wende" konsequent seinem Stil und seiner Herkunft treu. Nach den wiederum mehrfach ausgezeichneten Produktionen VerloreneLandschaft (1992), Neben der Zeit (1995), Niemandsland (1995) und Im Namen derUnschuld (1997) beweist das jetzt, nachdem gerade die ARD die von Kleinert inszenierten Teile sieben bis zwölf der TV-Adaption von Victor Klemperers Tagebüchern ausstrahlte, erneut sein jüngster Kinofilm Wege in die Nacht.
FREITAG: "Wege in die Nacht" ist ein Film in eindrucksvollen Schwarz-Weiß-Bildern des Kameramannes Jürgen Jürges, deren Stilisierung Charakteristikum des ganzen Films ist, in dem nur wenig gesprochen wird, sich alles ausdrückt über Gesichter. Erzählt wird die tragische Geschichte eines Mannes, der alles verloren hat, was sein Leben ausmachte, und der diesen Verlust nicht verwinden kann. In der DDR leitete Walter (Hilmar Thate) eine Fabrik, die sein Lebenswerk war. Heute ist sie eine Ruine, eine Trümmerlandschaft, in die er immer wieder zurückkehrt. Symbol auch für den Zusammenbruch einer Gesellschaftsutopie. Wiederum eine "Verlorene Landschaft"?
ANDREAS KLEINERT: Also ich hab ja das Problem mit meinen Filmen, dass sie immer irgendwo im Osten angesiedelt sind. Dadurch machen es sich manche auch gerne leicht und sagen: Ach ja, das passiert so den Leuten im Osten. Ich möchte das natürlich nicht. Ich möchte, dass es eine archaisch wirkende Geschichte ist, und ich merke auch - wir sind ja mit unserem Film viel im Ausland gewesen - dass die Leute anderswo überhaupt nicht über Ost und West reden. Es geht um die Charaktere, es geht um die existentiellen Probleme, die angesprochen werden, und ich glaube, diese Geschichte der verlorenen Liebe in einer Ehe oder einer Beziehung, kann jeder nachvollziehen. Das ist keine ost-westdeutsche Frage.
Trotzdem: der Schauplatz ist unverkennbar Ostberlin heute. Und immer wieder S-Bahnzüge. Hier unternimmt Walter mit zwei jungen Leuten, Gina (Henriette Heinze) und René (Dirk Borchardt), seine nächtlichen Streifzüge, bei denen das Trio handgreiflich eingreift, wenn Fahrgäste, meist jugendliche, andere belästigen. Ein selbsternannter Ordnungstrupp gegen die allgegenwärtige Gewalt und Gleichgültigkeit. Für Walter der Versuch, noch etwas Sinn in sein Leben zu bringen und durch die Autorität, die er bei seinen beiden jungen Mitstreitern genießt, Anerkennung zu finden. Wie es dazu kam, bleibt allerdings im Dunkeln.
Wir haben uns entschieden, alles, was an Informationsballast da ist, rauszulassen. Es gibt also relativ wenig Informationen über den Hintergrund und die Vergangenheit der einzelnen Figuren. Wir wollten, dass der Film sich ganz auf das Jetzt konzentriert und man ruhig mit Deutungen dazwischengeht als Zuschauer. Ich hatte mir immer vorgestellt, dass Walter früher schon immer durch die Nacht gezogen ist, aber erst mal alleine, und dass er den Jungen dann begegnet bei einer Aggression, einer Aktion, wo sie etwas aus sich heraus gemacht haben, wo sie jemand zusammengeschlagen haben oder so, und er dann in seiner Mischung aus autoritärer Art und pädagogischer Methode versucht hat, sie an sich zu binden. Wodurch sie relativ schnell merken, dass sich jemand um sie kümmert. Also ich glaube, er hat sie aufgelesen, er sagt ja auch einmal: "Ich wollte euch aus dem Dreck holen." Also er hat das als Aufgabe gesehen, die beiden umzuerziehen. Das ist eigentlich so der Hintergrund.
Während Walter seine nächtlichen Streifzüge unternimmt, sich auch mal in der Eckkneipe betrinkt, wartet zu Hause seine nichtsahnende Frau, die tagsüber als Kellnerin den Lebensunterhalt für beide verdient. Cornelia Schmaus spielt in dieser Rolle zum dritten Mal in einem Ihrer Filme. Hilflos muss sie zusehen, wie ihr der Mann immer mehr entgleitet, paranoide Züge annimmt bis zum Verfolgungswahn.
Für mich war das entscheidende Thema die Wertschätzung des Menschen. Was passiert, wenn man nicht mehr das Gefühl hat, gebraucht zu werden, wenn man es nicht mehr schafft, sich in der Gesellschaft irgendwo einzubringen? Es geht ja hier so weit, bis in die Liebesgeschichte hinein: seine Ehefrau, die sich scheinbar immer mehr löst von ihm, weil sie ihm immer weniger folgen kann. Und ich glaube, wenn uns Menschen so zwei, drei wichtige Balken hinweggezogen haben, dann fallen wir ganz tief. Der eine Balken ist natürlich irgendwie die Arbeit, wenn man darüber seine Wertschätzung bekommt, und der andere Balken ist natürlich die persönliche engste Bindung, die man hat. Und wir verfolgen in diesem Film im Prinzip, wie Walter diese beiden Balken nicht mehr hat und beobachten seinen freien Fall.
Hilmar Thate, der in diesem Jahr sein 50jähriges Bühnenjubiläum feiert, bis zu seiner Übersiedlung nach Westberlin 1979 Mitglied des Berliner Ensembles, später am Deutschen Theater, spielt den aus seiner Lebensbahn Geworfenen und erhielt dafür beim Festival von Karlovy Vary den Darstellerpreis. Was sprach für diese Besetzung?
Hilmar Thate ist noch nicht so abgenutzt wie die Gesichter, die man ständig zu sehen bekommt. Im Ausland, glaub ich, wäre er ein großer Star. Es ist bloß in Deutschland so: Er ist einfach zu spannend, zu speziell, zu außergewöhnlich, als dass er in Deutschland den Platz hätte, der ihm eigentlich gebührt. Ich finde es gut, dass er so wenig macht und dass er eben nicht irgendwelchen Mist macht, um noch bekannter zu werden. Für mich war er die ideale Mischung: Er ist eben nicht so'n Intellektueller, der gleich wegfliegt, sondern der wirklich noch Kraft hat. Er ist nie eindeutig in eine Schublade zu stecken. Und dann ist es jemand, dem man wirklich zwei Stunden in vielen Grossaufnahmen zusieht, ohne sich zu langweilen.
Sie wollten im Gegensatz zur ursprünglichen Absicht von Autor und Geldgebern den Walter nicht als negative Figur, sondern als einen Helden, der streckenweise Identifikation möglich macht. Warum?
Ich identifiziere mich in vielerlei Hinsicht mit Walter auch selbst als Regisseur. In den Positionen, wo er die Grenzen überschreitet, ist er natürlich für mich außerhalb des menschlichen Zusammenlebens, aber ich kann ihn begreifen. Ich hab selber immer gehofft, dass man seine anarchistische Seele ausleben kann, aber man lebt sie natürlich nicht aus, weil man sie kontrolliert und dämpft und drückt. Deswegen macht man ja wahrscheinlich Filme, weil man dabei etwas davon ausleben kann. Aber ich kann ihn absolut begreifen, sein ganzer Hass und seine ganze Wut sind für mich sehr nachvollziehbar.
Ich frage mich oft: Warum gibt es kaum Filme, die diese allgemein spürbare Problematik der Kolonialisierung eines Landes und der Transformierung einer Gesellschaft in ein ganz anderes System zum Gegenstand haben?
Ich glaube, die Gründe liegen auf der Hand: So etwas lässt sich nicht verkaufen. Wir merken ja, dass es immer noch Tabus und Ausgrenzungen gibt. Das sind nicht Tabus wie früher, also dass man sagt, darüber darf man nicht reden, aber es sind auf jeden Fall so Dinge, wo die, die das Geld geben, glauben, es würde nicht fürs Kino attraktiv sein. Und wenn sie dann überhaupt mal soziale Themen zulassen, dann muss es, sagen sie immer, so etwas wie Brassed off sein. Das ist ja ein sehr schöner Film, aber dass man zum Beispiel eine ganz klare klassische Tragödie machen kann, daran glaubt niemand. Aber man sieht ja, dass es dann doch im Kino funktioniert, auch wenn's vielleicht nicht die riesigen Publikumszahlen hat.
Einfach wird der Weg bis zur Realisierung der "Wege in die Nacht" nicht gewesen sein.
Bei unserem Film war es nicht nur schwierig. Es war grauenhaft. Der Stoff existiert ja schon seit ewigen Jahren, wir hatten ihn schon viele Jahre in der Schublade. Es war eigentlich so, dass wir ihn jetzt unter Bedingungen gemacht haben, unter denen man im Grunde keinen Film machen kann. Er ist also billiger als der kleinste Fernseh-Krimi. Er hat 800.000 Mark gekostet. Und das heisst natürlich, da wir lauter wunderbare Leute haben, alle Positionen sind edel besetzt, dass wir alle unter Selbstausbeutung gearbeitet haben. Es war wirklich ein Freundschaftsdienstprojekt, wo sich alle verewigt haben und leider nicht davon leben konnten.
Ein Beweis mehr, dass die Qualität eines Films nicht von der Größe des Budgets abhängt. "Wege in die Nacht" ist für mich einer der besten Filme dieses Jahres. Eine letzte persönliche Frage: Alle Ihre Filme, angefangen von den Babelsberger Studentenarbeiten, haben ja einen düsteren und pessimistischen Grundton. Entspricht das Ihrer Weltsicht?
Irgendwas muss da ja dran sein. Die Filme kommen ja so, wie man letztlich auch ist, sie verraten sehr viel von einem. Ich bin privat, also in den kleinen Dingen des Lebens, eher ein optimistischer Mensch, aber in den großen Dingen bin ich, glaub ich, doch eher das, was die Filme ausdrücken. Also ich habe es natürlich gerne in den Filmen, wenn da Humor da ist, gar keine Frage. Aber ich weiß, dass die Figuren immer letztendlich doch irgendwo an dieser Welt scheitern. Es ist merkwürdig, es passiert dann immer so. Zuletzt waren es die Klemperer-Tagebücher: Die haben ja quasi ein Happy End, weil die Klemperers überleben. Aber wenn man die letzten Folgen sieht, wird man schon merken, es ist wieder eine sehr existentielle Geschichte: Menschen, die an der Gesellschaft verzweifeln.
Das Gespräch führte Heinz Kersten
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