Ein Messfehler - zehn Bomben

Fusionsenergie In Frankreich soll der Fusionsreaktor ITER realisiert werden - doch bislang gibt es kein Konzept für die Nuklearmaterialüberwachung. Und das gewonnene Tritium ist waffenfähig

Die Erzeugung von Energie durch Fusion gilt als die saubere und sichere Variante der Kernenergie. So wie die Sonne durch die Fusion leichter Elemente strahlt, so könnten die beiden Wasserstoffisotope Deuterium und Tritium vielleicht die Energieprobleme der Menschheit auf Dauer lösen. Ein Super-GAU wie im ukrainischem Tschernobyl ist technisch dabei nicht möglich. Als Reaktionsprodukt entsteht das völlig ungefährliche Helium. Es ist nicht einmal ein Treibhausgas. Weiter wird von den Protagonisten der Fusionsenergie aufgeführt, dass der entstehende radioaktive Abfall vergleichsweise schnell zerfalle, die Endlagerproblematik somit nicht auftrete. Ein zusätzlicher Vorteil ist, dass die Kernwaffenmaterialien Uran und Plutonium nicht benötigt werden.

Doch gibt es bei der Nutzung der Kernfusion auch Probleme, beispielsweise ist der Brennstoff Tritium radioaktiv und sehr flüchtig. Es wird damit gerechnet, dass in einem zukünftigen Fusionsreaktor jährlich zwei Gramm Tritium entweichen. Die Tritiumemissionen würden im Normalbetrieb so hoch sein, dass die Strahlenschutzauflagen nur mit besonderen technischen Maßnahmen - dem Bau eines 200 Meter hohen Kamins und der Einzäunung des Geländes im Umkreis von zwei Kilometern - einhaltbar sein werden.

Radioaktiver Abfall entsteht durch die hoch energetischen Neutronen, die auf die Wände und andere Komponenten des Reaktors treffen. Dabei werden diese Materialien aktiviert, das heißt, es entstehen radioaktive Isotope. Die höchst belasteten Teile müssen regelmäßig ersetzt werden. Auch wenn der Atomabfall nur 1.000 Jahre strahlt, muss er über viele Generationen hinweg sicher eingelagert werden. Ein weiterer Nachteil besteht darin, dass die elektrische Energie aus Fusionsreaktoren deutlich teurer sein wird, als die derzeitigen Kosten für Strom aus Kern- und Kohlekraftwerken.

Viel weniger bekannt ist allerdings die militärische Bedeutung von Fusionsreaktoren. Sie arbeiten mit Tritium und könnten Plutonium erbrüten. Beide Materialien werden für die Produktion von Kernwaffen verwendet. Doch während Plutonium umfangreicher internationaler Kontrolle unterliegt, wird Tritium bislang nur unzureichend kontrolliert.

Im Gegensatz zu Deuterium, welches aus Wasser extrahiert werden kann, kommt Tritium in der Natur kaum vor, es entsteht als Abfallprodukt in Schwerwasserreaktoren, über die Kanada und Indien verfügen. Größere Mengen von Tritium sind sonst nur von den Kernwaffenstaaten, insbesondere der Sowjetunion und den USA produziert worden, das weltweite Gesamtinventar beträgt einige hundert Gramm. Das im geplanten Fusionsforschungreaktor ITER (International Thermonuclear Experimental Reactor) benötigte Tritium muss also aus Kanada gekauft werden, bis er selbst imstande ist, das Material zu erzeugen. Betrieben wird ITER von China, der EU, Japan, Russland, Südkorea und den USA. Alle fünf anerkannten Kernwaffenstaaten sind also dabei. Beteiligte Wissenschaftler aus diesen Ländern könnten die Gelegenheit nutzen und Tritium für ihr nationales Kernwaffenprogramm entwenden. Viel brisanter wäre jedoch das Schmuggeln von Tritium in ein nukleares Schwellenland.

Für den Bau einer einfachen Spaltbombe ist Tritium nicht notwendig. Heute jedoch werden zusätzlich zu den Spaltmaterialien in fast allen Sprengkopfdesigns Tritium und Deuterium beigefügt. Unter den extremen Bedingungen der Explosion einer Spaltbombe fusionieren sie. Auch für neue und werdende Nuklearländer ist Tritium also interessant, denn damit würde pro Bombe weniger spaltbares Material benötigt. Insofern stellt sich auch bei Tritium die Proliferationsproblematik neu: Anlässlich einer Expertenanhörung im Deutschen Bundestag im März 2001 wies der Sachverständige Jörg Vetter darauf hin, dass Tritium bislang nicht zum Überwachungsgegenstand der Internationalen Atomenergiebehörde (IAEO) gehört und bekräftigte, dass für ITER dringend ein Safeguards-Konzept zu erarbeiten sei.

Zunächst müsste sichergestellt werden, dass das dort entstehende Tritium nicht entwendet werden kann. Da Tritium ein schwacher Betastrahler ist und keine Gammastrahlen emittiert, lassen sich die Strahlensignale leicht abschirmen und wären nicht durch Detektoren am Ausgang zu entdecken. Also muss man den Verbleib aller Lieferungen von Tritium überwachen, um nachzuweisen, dass das Material auch wirklich innerhalb der Anlage verbleibt. Für Uran und Plutonium ist dieses Verfahren etabliert und wird im Rahmen von Inspektionen durch die IAEO durchgeführt. In Anlagen, die mit variablen Mengen umgehen, sind diese Inventuren allerdings immer mit Messfehlern behaftet, und der Nachweis von Diebstählen bleibt beschränkt. Die Euratom hat den Ansatz der Materialbilanzierung auch für die Tritiumkontrolle realisiert.

ITER stellt eine besondere Herausforderung an diese Überwachung dar. Durch die Größe und Komplexität dieser Anlage wird es nicht möglich sein, die genaue Menge an Tritium festzustellen. Wird eine Messgenauigkeit von einem Prozent angenommen, könnte das Gesamtinventar von drei Kilogramm bei der Überprüfung nur auf plus minus 30 Gramm genau bestimmt werden. Diese Menge wäre aber ausreichend für rund zehn bis 15 Kernwaffen.

Die Fusionsenergie ist also keineswegs eine derart saubere und sichere Form der Energiegewinnung, wie oft behauptet wird. Insbesondere die Gefahr der Produktion und Entwendung von kernwaffenfähigen Materialien ist kaum bekannt. Während relativ einfache nukleare Sicherungsmaßnahmen eingeführt werden können, durch die eine heimliche Produktion von Plutonium nachzuweisen wäre, stellt sich diese Aufgabe in Bezug auf Tritium schwieriger dar. Für den Fusionsforschungsreaktor ITER, der nun in Frankreich gebaut werden soll, ist ein solches Konzept noch nicht in Sicht.

Martin B. Kalinowski ist Direktor und Jörg Reckers Mitarbeiter am Carl Friedrich von Weizsäcker-Zentrum für Naturwissenschaft und Friedensforschung der Universität Hamburg.


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