Ein Name, ein Leben

Elternlos Im Iran gibt es zahlreiche Waisen, um die sich der Staat nicht kümmert. Einrichtungen von Privatpersonen übernehmen häufig diese Aufgabe. Zu Besuch in einem Waisenhaus

Vor dem Autofenster zog die bizarrschöne, karge Bergwüstenlandschaft an uns vorbei. Der Himmel war wolkenverhangen. Wir waren auf dem Weg nach Bam – der alten Stadt im Südosten des Irans, die 2003 von einem Erdbeben zerstört wurde, bei dem über 30.000 Menschen ums Leben kamen. Wir wollten dort ein Waisenhaus besuchen, eines der Häuser, die Homayoun Sanati in der Tradition seines Großvaters gegründet hatte und im Rahmen einer Stiftung führte. In einem Land, das in den Achtzigern eine ganze Generation an den Krieg mit dem Irak verloren hat, sind Waisen ein großes Problem, dem der Staat nicht gewachsen ist. In der Region um Bam taten das Erdbeben und Drogen ihr Übriges.

Homayoun Sanati war ein charismatischer und warmherziger, aber vor allem auch ein pragmatischer Mann. Weil der ehemalige Händler auf dem Basar in der Provinzhauptstadt Kerman europäische und amerikanische Bücher übersetzt und auch selbst verlegt hatte, musste er nach der Revolution für fünf Jahre ins Gefängnis – wegen „Korruption der Jugend und Verbreitung amerikanischer Kultur“.

Sanati interessierte sich nicht sonderlich für Politik, aber er interessierte sich für Menschen – und er wollte helfen. Mit diesem Pragmatismus sicherte er auch die Zukunft der Waisenhäuser: Er gründete unter anderem eine Firma für die Verarbeitung von Datteln, deren Gewinne ausschließlich diesen Einrichtungen zugutekommen sollten.

Die Einrichtung in Bam ist ein großzügiger und heller Bau am Stadtrand, eine Art Internat – Schule und Heim in einem. Sie beherbergt Mädchen im Alter bis zu 18 Jahren, die sich die großen Zimmer teilen. An den Wänden hängen, je nach Alter, Poster von Pferden oder von Popstars.

An dem Tag unseres Besuches war das Haus eigentlich geschlossen – die Mädchen verbringen einen Tag in der Woche mit ihren Verwandten, sofern sie welche haben, daher waren nur etwa 20 Mädchen vor Ort. Hausmeister, Lehrer und männliche Betreuer haben an geschlossenen Tagen frei, sodass die Mädchen unter sich sind und keine Kopfbedeckung tragen müssen. Erstaunlicherweise bedeckten viele von ihnen auch erst für die Fotos ihre Haare – daher auch das Bettlaken, mit dem sich eines der Mädchen für die Aufnahmen schnell eingehüllt hatte.

Keine Zukunftsperspektive

Generell erschien uns der Iran in vielen Dingen viel liberaler, als uns dies in westlichen Medien gerne vermittelt wird. Schultern und Haare bedeckten viele Frauen erst, wenn sie das Haus verließen. Es wurde oft sehr offen und kritisch über Politik diskutiert. Diese andere Seite des Iran war eine große Überraschung für mich.

Als wir, die Gäste aus Europa, im Waisenhaus von Bam eintrafen, beäugten uns die Mädchen zunächst aus der Ferne, sie tuschelten, kicherten, spornten sich gegenseitig an und schubsten sich vor die Kamera. Es war ein schöner Moment, der uns über alle kulturellen und sprachlichen Barrieren hinweg verband, ein Moment, wie ihn nur die Fotografie erzeugen kann.

Ich bin selbst immer noch überrascht, wie ernst und intim die Porträts wirken – sie entsprechen in keiner Weise meiner Erinnerung, schließlich war unsere Anwesenheit ein Ausnahmezustand, der für große Aufregung sorgte. Wahrscheinlich aber vermitteln sie einen realistischeren Einblick in die Welt der Mädchen als meine Erinnerung an diesen Ausnahmezustand. Es ist nach wie vor eine meiner wenigen Serien, die mich auf eine stille Weise glücklich macht.

Familie spielt im Iran eine ungemein wichtige Rolle – der Status der Eltern ist entscheidend für die Zukunft der Kinder, für Studium, Arbeit und auch die Ehe. Waisenkinder haben insofern einen schweren Stand in der Gesellschaft – sie verlieren nicht nur ihre Eltern, sondern auch ihren Namen, der für ihr späteres Leben so wichtig ist. In gewisser Weise wird ihnen so nicht nur die Vergangenheit genommen, sondern auch die Hoffnung auf eine Zukunft.

Homayoun Sanati, der mittlerweile verstorben ist, war sich des Problems bewusst, dass er mit seinen Einrichtungen den Kindern zwar eine relativ glückliche Gegenwart, aber keine Zukunftsperspektive schenken konnte. Schon sein Großvater hatte dafür bereits eine ebenso einfache wie großzügige Lösung gefunden, die Sanati gern von ihm übernahm: Sanati vermachte den Waisenkindern kurzerhand seinen eigenen Namen, der in dieser Region des Irans nach wie vor großen Respekt genießt.

Kai von Rabenau, 38, hat in London studiert, bevor er 2000 in Berlin als Fotograf zu arbeiten begann. Er fotografiert für internationale Magazine. Seit 2005 ist er auch Herausgeber des Interview-Magazins . Das Kölner Independent-Magazin The Weekender erzählt in seiner aktuellen Ausgabe ausführlich die Geschichte von Homayoun Sanati

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