Schrumpft euch gesund!

SPD Den Genossen sind die Wähler abhandengekommen. Wenn die Sozialdemokraten nicht weiter abstürzen wollen, brauchen sie Visionen. Wie wäre es mit der Opposition?
Ausgabe 42/2018
Kann sie die Partei aus der Misere führen?
Kann sie die Partei aus der Misere führen?

Foto: Robert Schlesinger/Getty Images

Es gibt da dieses neue Schimpfwort. Wer heute noch vom Widerspruch zwischen Kapital und Arbeit redet, sieht sich schnell als „Old School“ bezeichnet, als Linker alter Schule. Als neu, und damit als gut, gilt dagegen die radikale Diversität, die das Streben nach einem allgemeinen Lebensstandard durch den besonderen Wunsch nach dem „guten Leben“ ersetzt hat. Betrieben hat diesen Wandel eine neue Mittelklasse. Die macht nur ein Drittel der Gesellschaft aus, sie bestimmt aber längst die kulturellen Linien im Land. Es sind vor allem jüngere Akademiker, von denen viele Häuser oder Vermögen erben werden und die darum wenig akute Angst empfinden müssen vor der Mietmisere, der Rente oder dem Pflegenotstand.

Das Dilemma der SPD besteht darin, dass sie diese neue Mittelklasse durch ihre Sozialpolitik der siebziger Jahre hat entstehen lassen. Ausgerechnet dieser Klasse bietet die Partei kein überzeugendes Programm mehr an. Gerhard Schröder hatte 1998 mit seinem Slogan der „Neuen Mitte“ noch Erfolg, weil er damals einen Wertewandel in einer Gesellschaft erkannte, die sich von Normen und Pflichten hin zu Selbstverwirklichung und Liberalisierung bewegte. Anstatt mit einem Konzept für den Sozialstaat des 21. Jahrhunderts auf die veränderte Klassenstruktur zu reagieren, hat die SPD den Sozialstaat zerstört und sich zur willigen Vollstreckerin des Neoliberalismus degradiert.

Die neue Mittelklasse hat sich in vielen Fragen nicht homogen entwickelt. In einem aber zeigt sie gerade seit der sogenannten Flüchtlingskrise erstaunlich klare Kante: Von der Politik erwartet sie Haltung. Jene Haltung, die eine oppositionsscheue SPD nicht haben kann. Jene Haltung, die eine SPD nicht haben kann, die mit sozialer Gerechtigkeit Wahlkämpfe führt und zugleich nichts am Mietenwahnsinn ändert. Jene Haltung, die eine SPD nicht haben kann, die für Bürgerrechte eintritt und letztlich doch eine Migrationspolitik nach ökonomischen Nützlichkeitskriterien betreibt. Kurzum: Jene Haltung, die eine sich leutselig gebende und doch auf Anpassung an die Interessen der Wirtschaftseliten getrimmte SPD nicht haben kann.

Auf diesem Weg ist der einstigen Volkspartei nicht nur die urbane Mitte abhandengekommen, sondern auch die alte Mitte, zu der überwiegend nicht akademisch ausgebildete Facharbeiter zählen, denen die Agenda 2010 im Falle von Erwerbslosigkeit jede soziale Sicherheit genommen hat. Völlig aus dem Blickfeld geraten ist die Unterklasse, die aus prekär Beschäftigten und Erwerbslosen besteht. Deren Zuwachs hat in den vergangenen beiden Jahrzehnten niemand so zu verantworten wie die SPD.

Die SPD muss wieder sozialdemokratisch werden. Mit jedem weiteren Tag, an dem sie die Große Koalition am Laufen hält, beschleunigt die SPD den eigenen Sterbeprozess. Kündigt sie die Regierung auf, droht ihr bei Neuwahlen eine existenzielle Zerreißprobe.

Das ist gefährlich, bietet aber auch Raum für Visionen. „Wer Visionen hat, sollte zum Arzt gehen“, hat Helmut Schmidt einmal gegen Willy Brandt gesagt. Heute ist es genau umgekehrt. Als geschrumpfte Oppositionspartei ließe sich eine neue soziale Idee entwickeln, mit der lose verbundene Individuen wieder zu einer Gesellschaft werden könnten. Während alle anderen Parteien die Unterschiede betonen, könnte die SPD das Gemeinsame, Verbindende der Milieus herausstellen und einen neuen, temporären Klassenkompromiss aushandeln. Als Markenkern böte sich ein wohlbekannter Begriff an: Solidarität. Das wäre „Old School“. Aber zeitgemäß.

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