Ein paar Finger

EIN "UNBEKANNTER TOTER" Die Staatsanwaltschaft war an einer Identifizierung Georgij Gongadses nicht interessiert

Miroslawa Gongadse greift erregt zum Telefonhörer. Soeben hat sie durch die Abendnachrichten im Fernsehen erfahren, dass die Leiche, die man im November in einem Wald bei Kiew fand, von den Ermittlungsbehörden eindeutig identifiziert worden sei. Sie selbst hatte den Toten schon im Dezember als ihren Mann wiedererkannt. Aber die Staatsanwaltschaft zögerte das offizielle Ergebnis hinaus. "Die lähmte einfach die Angst, den Tod eines bekannten Journalisten anzuerkennen", meint Miroslawa.

Die DNA-Analyse des russischen Spezialisten Jegor Iwanow hatte zwar mit 99,6-prozentiger Sicherheit ergeben, dass es sich um die Leiche von Georgij Gongadse handelte, für den ukrainischen Generalstaatsanwalt Potebenko war das aber ein unzureichendes Resultat. "Bei 99,8 Prozent wäre das etwas anderes", hatte er erklärt und angekündigt, man werde die kopflose Leiche notfalls als "unbekannten Toten" beerdigen lassen. Die Witwe Gongadses erinnert sich mit Schrecken daran, wie man ihr Mitte Dezember die Leiche zeigte. Teile der Körpers waren verwest, die Haut verbrannt. "Aus einem Beutel schüttete ein Beamter ein paar Finger auf den Tisch." Dass es sich um ihren Mann handelte, erkannte Miroslawa an den Beinen. Dort entdeckte sie Narben, die von einer Granatexplosion aus der Zeit des georgisch-abchasischen Krieges herrührten, über den Gongadse 1992 als Journalist berichtet hatte.

Miroslawa weiß wohl, dass sie dank der Affäre inzwischen zu einer prominenten Persönlichkeit wurde, doch gibt ihr das keine Sicherheit. "Nachdem durchsickerte, dass der Präsident und höchste Richter in den Fall verwickelt sein könnten, bekam ich Angst. Mir wurde klar, die Angelegenheit ist so ernst, dass es da vorläufig keinen Schlusspunkt gibt. Die Justizorgane können den Fall gar nicht objektiv untersuchen, das lässt sich vielleicht nur durch den Einfluss des Auslandes ändern ..."

Angst habe ihr Mann nicht gekannt. "Georgij ging durch drei Kriege - er war sowjetischer Soldat in Afghanistan und später Journalist im georgischen und dann im georgisch-abchasischen Bürgerkrieg. Sein Vater, Ruslan, war Dokumentarfilmer und Parlamentsabgeordneter in Tbilissi. Ich glaube, Georgij wollte ihm ähnlich sein." Dieser Vater gehörte der Volksfront für ein freies Georgien an, war Berater des ehemaligen Präsidenten Swiad Gamsachurdia, fiel dann allerdings in Ungnade und wurde zum "Volksfeind" erklärt.

Wegen der katastrophalen Wirtschaftslage in seiner Heimat ging Georgij Gongadse 1992 schließlich in die Westukraine, nach Lwow, und lernte dort Miroslawa kennen, die ihm als Juristin bei der Registratur eines georgischen Kulturzentrums behilflich war. "Georgij war alles andere als lenkbar und darum gefürchtet. Er besaß eine innere Freiheit, wie sie nur wenige kennen und wie sie von vielen Leuten gerade hier in der Ukraine nicht verstanden wurde."

Weil Gongadse als Fernsehjournalist in Kiew keine Chance bekam, wechselte er schließlich zum Sender Radio Kontinent. Dort informierte er ausführlich über die ukrainische Opposition. Im Dezember 1999 - nur wenige Tage vor einem Besuch des ukrainischen Präsidenten Leonid Kutschma in Washington - veröffentlichte Gongadse in den USA eine Erklärung zur Einschränkung der Pressefreiheit in der Ukraine, ein Dokument mit den Unterschriften von 60 ukrainischen Journalisten. Diese Intervention brachte ihm viele, vor allem viele mächtige Feinde ein. Miroslawa meint, man habe mit manchem gerechnet, zum Beispiel damit, dass Georgij einmal ins Gefängnis müsse oder in eine psychiatrische Anstalt. "Aber niemand konnte sich vorstellen, dass einmal so etwas passiert ..."

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