FREITAG: Das Hartz IV-Jahr hat begonnen. Ab jetzt werden Arbeitslose gezwungen, zu Löhnen zu arbeiten, die weit unter dem ortsüblichen Niveau liegen. Mit einem gesetzlichen Mindestlohn könnte man darauf reagieren. Warum gab es in den Gesprächen der Gewerkschaften mit dem SPD-Vorsitzenden Franz Müntefering kein Ergebnis in dieser Frage?
KLAUS WIESEHÜGEL: Das Thema wurde nicht endgültig beiseite gelegt. Aber bis zur Bundestagswahl im Herbst 2006 wird es wohl keine Annäherung geben. Ich bedauere es sehr, dass wir innerhalb der Gewerkschaften die wenigen Punke, die uns trennen, nicht überwinden konnten. Das wäre eine Voraussetzung, um als geschlossener Block mit der SPD verhandeln zu können. Dann könnten wir auch die Bundesregierung in Argumentationsnöte bringen, weil ja der Kanzler und der Wirtschaftsminister gar keinen Mindestlohn möchten.
Ist die Angst der IG Metall begründet, dass ein gesetzlicher Mindestlohn die Tarifautonomie aushöhlen würde?
Wenn wir die Tarifautonomie aufgeben und beispielsweise in einer Drittelparität unter Einbeziehung des Sachverständigenrates verhandeln würden, glaube ich, dass wir beim derzeitigen Kräfteverhältnis und angesichts der sehr differenzierten Lohnentwicklung weit unter einem Mindeststundensatz von 7,50 Euro landen. Das ist die Mindestmarge, die der Verdi-Vorsitzende Frank Bsirske in die Diskussion gebracht hat. Eine Größenordnung von vier oder fünf Euro würde nichts bringen. Für den Binnenmarkt und die Konsumschwäche wäre ein so niedriger Mindestlohn kontraproduktiv. Dafür gibt man in der Tat die Tarifautonomie nicht auf.
Die Tariflöhne geraten immer stärker unter Druck. Es scheint so, als wollten sich die Unternehmer das, was sie in den vergangenen Jahrzehnten abgeben mussten, wieder zurückholen.
In der Tat, das ist so. In der Vertrautheit der Tarifrunde, hinter verschlossenen Türen, lassen die Arbeitgeber alle Masken fallen. Dort sagen sie ganz offen, dass sie das momentane Überangebot an Arbeitskräften nutzen wollen, um zehn Prozent Lohnkostenreduzierung durchzusetzen. Wir dürfen nur noch darüber verhandeln, wie wir die zehn Prozent zusammen bekommen - und nicht mehr über die zehn Prozent selbst. Und das erleben wir nicht nur in der Baubranche, das erleben gegenwärtig alle meine Kollegen. Siemens, VW und Opel sind nur herausragende Beispiele dafür.
Für die Baubranche gibt es den Mindestlohn. Damit sollte Tarifdumping durch vagabundierende Arbeitskräfte verhindert werden. Ist das gelungen?
Inzwischen ist der Mindestlohn, der derzeit im Westen bei 12,47 Euro für Facharbeiter liegt, für die inländischen Arbeitnehmer fast wichtiger als für unsere ausländischen Kollegen. Er ist im Zuge des Arbeitnehmer-Entsendegesetzes entstanden und sollte Konkurrenz unter Arbeitnehmern verhindern. Im Osten der Republik arbeiten die meisten Kollegen nicht für den Tariflohn, sondern für den niedrigeren Mindestlohn. Wir halten aber an dem Modell fest, weil wir den osteuropäischen Kollegen damit klar machen können, dass sie Anspruch auf einen fairen Lohn haben.
Für einen polnischen Eisenflechter ist ein Stundenlohn von acht Euro ein paradiesischer Zustand ...
... und für den ukrainischen Eisenflechter sind die polnischen Löhne paradiesisch. Der Verdrängungswettbewerb, den wir hier beklagen, ist auch in Polen Realität. Die polnische Regierung und die Gewerkschaften gehen mit Mitteln dagegen vor, die sie uns als europafeindlich vorwerfen. Das nenne ich ein Europa der Doppelmoral.
Die IG BAU setzt auf eine Internationalisierung der Gewerkschaftsarbeit. Gelingt das?
Wir haben lange gebraucht, bis wir soweit waren. Bei unseren Funktionären gab es die Vorstellung, wir müssen nur eine neue Mauer aufbauen, dann haben wir ein paar Probleme weniger. Da musste erst die Mauer in den Köpfen weg. Es war ein langer Prozess, um deutlich zu machen, dass die Internationalisierung der Arbeitsbeziehungen nicht umkehrbar ist. Die Menschen sind hier, und sie arbeiten hier. Die wollen wir nicht rauswerfen. Eine Antwort besteht darin, die Gewerkschaften grenzübergreifend zu stärken, wie wir das mit der Gründung eines "Europäischen Verbands der Wanderarbeiter" getan haben. Das darf sich aber nicht auf die Spitzenebene Brüsseler Tagungen beschränken, das muss sich auf die tägliche praktische Arbeit auswirken. Derzeit bereiten wir den Boden, indem wir unsere Leute Sprachen lernen lassen. Das ist die erste Voraussetzung, um sich zu verständigen.
Noch ist es kalt, doch die Spargelsaison kommt bestimmt und dann fängt das Jammern wieder an, etwa nach dem Motto: die Bauern brauchen osteuropäische Erntehelfer, weil sich die deutschen Arbeitslosen zu schade sind, Spargel zu stechen.
Das ist eine sehr bigotte Debatte. Aufgrund der neuen Arbeitsmarktgesetzgebung wird es überhaupt keine Spargelstecher in einem ordnungsgemäßen Arbeitsverhältnis geben. Statt dessen nur noch Minijobs, die nicht sozialversichert sind. Wer in diesem Lande lebt, braucht aber einen Zugang zu den sozialen Sicherungssystemen und deshalb ein ordentliches Arbeitsverhältnis. Ich bin Michel Friedman vor laufender Kamera beinahe an den Hals gesprungen, als er erzählte, die Leute wären zu faul, und er würde, wenn er keine Arbeit hätte, sofort zum Spargelstechen gehen.
Wirtschaftsminister Wolfgang Clement würde, wie er sagt, im Fußballstadion Würstchen verkaufen.
Das ist genau so populistisch. Stechen Sie mal über mehrere Stunden in gebückter Haltung Spargel. Viele, die über diese Arbeit reden, wissen gar nicht, was das für eine Knochenarbeit ist. Für ältere Menschen ist das kein Job. Die Langzeitarbeitslosen sind zum großen Teil über 50 Jahre alt. Von jüngeren Arbeitslosen zu verlangen, sie sollen sich ihren Eintritt ins Arbeitsleben über Spargelstechen "erkaufen", ist aber ebenfalls zynisch. Die brauchen eine andere Perspektive. Im Übrigen gab es schon immer Saisontätigkeit und Wanderarbeiter, die von Feld zu Feld gezogen sind. Wer sich freiwillig für diese Tätigkeit entscheidet, soll sie tun. Wir wollen das tariflich so absichern, dass es einigermaßen geordnet zugeht.
Nichts deutet im Moment darauf hin, dass die Gewerkschaften solche Forderungen noch durchsetzen könnten.
Die Gewerkschaften hatten sich in der alten Bundesrepublik über viele Jahre daran gewöhnt, dass sie allein mit der Streikdrohung den Unternehmern erfolgreich gegenüber treten konnten. Wir konnten sehr glaubhaft sagen, ihr braucht die Ware Arbeitskraft, und wir verhandeln mit euch über die Bedingungen und den Preis. Wir hatten die Stärke, Arbeitskämpfe zu führen und zu gewinnen. Jetzt sind wir in der Situation, dass das in vielen Bereichen nicht mehr funktioniert. Die Unternehmer verlagern den Standort und brauchen die hiesigen Arbeitskräfte nicht mehr. Und dann kommt noch zusätzlicher Druck durch die Sozialpolitik in Gestalt von Hartz IV: die Angst vor dem sozialen Abstieg macht die Menschen gefügig.
Zusätzlich zieht sich der Staat aus seiner Investorenfunktion zurück.
Ja, es mangelt an öffentlichen Investitionen. Auch deshalb ist die Bauwirtschaft so stark geschrumpft, die Belegschaften wurden halbiert. Allein der Bedarf an Infrastruktursanierung ist riesengroß. Nur ein Drittel wird erledigt. Notwendige Lebensgrundlagen verrotten. Das halte ich für viel dramatischer als die Schulden, die unsere Kinder erben. Die künftige Generation erbt eben auch eine desolate Infrastruktur. Durch die Steuersenkungspolitik hat der Staat nicht genug Möglichkeiten, um zu investieren. Wir unterbieten uns in einem Steuerwettlauf nach unten. Das ist der Infarkt des Landes.
Nach der neuen EU-Dienstleistungsrichtlinie sollen zukünftig alle Dienstleistungen europaweit ausgeschrieben und angeboten werden können. Auch dadurch wird ein neuer "Wettlauf nach unten" entstehen.
Da ist zum Beispiel das Herkunftsland-Prinzip. Egal ob jemand Altenheimbetreiber ist oder eine Wasserleitung legt: Bei schlechter Arbeit wäre dann nur eine Klage im Herkunftsland des Dienstleisters möglich. Vor allem aber würde eine solche Richtlinie die nationalen Gesetze zum Schutz der Arbeit und der Arbeitnehmer außer Kraft setzen, die am Arbeitsort gelten. Nur die Gesetze des Herkunftslandes wären anwendbar. Wie soll das funktionieren, wenn ein Unternehmen aus Litauen im Harz ein Altenheim betreibt? Kommt dann der Inspektor der litauischen Regierung und schaut nach dem Rechten? Jeder Unternehmer könnte sich künftig aus 25 Ländern den Anbieter suchen, der die günstigsten Arbeitsbedingungen bietet. Und viele Firmen werden in einem für sie günstigen Land einen Briefkasten an die Wand schrauben und sagen, hier ist der Sitz meines Betriebes. Dann würden die Gesetze dieses Landes für die ganze EU gelten. Wenn das Realität wird, haben wir paradiesische Zustände für Ausbeuter. Mit ganz dünnen Bohrern mussten wir ganz dicke Bretter bohren, um solche Folgen den Politikern vor Augen zu führen. Selbst als wir in Brüssel mit Abgeordneten des Europaparlaments geredet haben, lagen die Politiker in Berlin noch im Tiefschlaf. Inzwischen sind sie aufgewacht und sagen, das ist nicht gut, was da auf uns zukommt. Jetzt geht es darum, eine politische Position zu entwickeln, an der auch der Wirtschaftsminister nicht vorbeikommt.
Für die international vernetzte Politik, die sich in der EU oder in der Welthandelsorganisation manifestiert, scheinen sich die Menschen allerdings nicht wirklich zu interessieren.
Die IG BAU hat schon oft Themen aufgegriffen, bei denen wir geahnt haben, was da auf uns zukommt. Aber die Vermittlung ist schwierig, auch intern. Wenn ich sage, ich fliege zur Holzarbeitergewerkschaft nach Malaysia, weil die um Hilfe gebeten hat, dann sagen meine Kollegen: Klaus, wir wünschen dir einen schönen Urlaub. Aber in Ostmalaysia geht es um handfeste Konflikte, etwa um den Kauf von Waldflächen durch westliche Investoren, die keine Gewerkschaft zulassen wollen. Da stehe ich dann fassungslos da und frage mich: Nimmt denn niemand wahr, was in dieser Welt passiert. Es gibt einen Krieg der Investoren gegen diejenigen, die Arbeitnehmerrechte einfordern. Dieser Krieg wir bei uns öffentlich nicht dargestellt. Es ist abwegig zu behaupten, wir hätten mit dieser Entwicklung nichts am Hut. Wir sind nicht weit davon entfernt, dass künftige Investoren in Europa gewerkschaftsfreie Zonen fordern. In den USA ist es im Augenblick so, dass Unternehmen von den Kommunen Steuerfreiheit verlangen, sie fordern Schutz vor Gewerkschaften, und Kosten bei der Ansiedlung dürfen auch nicht entstehen. In Asien ist diese Entwicklung noch dramatischer.
Wenn man sich all das vergegenwärtigt, könnte man auf die Idee kommen, eine Guerillabewegung zu gründen.
Manchmal verzweifele ich auch. Es gibt in unserem Land eine mangelnde Bereitschaft, sich mit diesen Tatsachen auseinanderzusetzen. Sieben Millionen Menschen setzen sich vor den Fernseher, nur weil eine abgetakelte Schauspielerin Kakerlaken isst. Da ist es schwer, eine gesellschaftspolitische Debatte zu führen, die wir ganz dringend brauchen, um zu definieren, in welche Richtung die Gesellschaft steuern soll. Im Freitag wurde eine solche Debatte über Monate geführt. Das müsste viel mehr in die Breite gehen. Doch in den meisten Zeitungen wird gar nicht das abgebildet, was nötig und möglich wäre. Die Leserbriefe sind oft politischer als das, was an journalistischem Inhalt geboten wird.
Das Gespräch führte Günter Frech
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