Wie lange er sich von der Bild-Zeitung das alles noch bieten lassen wolle, fragte mein Vater Gregor Gysi nach der Wende und übernahm das Mandat, ihn vor Gericht gegen die Stasi-Vorwürfe der Presse zu verteidigen. „Doch woher wusste er, dass Bild lügt und ich, den er nicht kannte, nicht?“, fragte Gysi 2017 in seiner Trauerrede auf der Beerdigung seines Rechtsanwalts und Freundes Heinrich Senfft.
Ob sein Mandant die Wahrheit sagte, konnte mein Vater seinerzeit freilich noch nicht beurteilen, doch war er überzeugt, dass sowohl Pressefreiheit als auch Persönlichkeitsschutz feste Bestandteile eines Rechtsstaats sind. Der Faschismus und Holocaust waren der Grund, warum er sich unverrückbar für Freiheit, Aufklärung und Demokratie einsetzte. Er sa
Demokratie einsetzte. Er sah die innere Einheit gefährdet, wenn die Wiedervereinigung vom Geist des Kalten Krieges geprägt blieb. Immer wieder wies er auf die Asymmetrien hin, die nicht nur in wirtschaftlicher Hinsicht zwischen Ost- und Westdeutschen herrschten. Die Bürger der DDR, so wiederholte er, hätten den Preis dafür gezahlt, dass die Deutschen im 20. Jahrhundert zwei Weltkriege angezettelt hatten, während die Westdeutschen vom Wirtschaftswunder profitierten und ihre NS-Vergangenheit rasch verdrängten. In Ostdeutschland hatte man den antifaschistischen, den „besseren deutschen Staat“ etablieren wollen, weshalb auch viele Juden remigrierten. 1989/90 dann erlebten die Ostdeutschen den zweiten Kollaps nach 1945. „Dabei war das, was offiziell immer noch Wiedervereinigung heißt, in Wahrheit nur der Anschluss nach Artikel 23 des Grundgesetzes, die bedingungslose Übernahme eines Landes, dessen Bewohner nicht mehr gefragt wurden“, so Heinrich Senfft, der sich mit solchen Aussagen manche Feinde machte.Als die DDR Ende 1989 in eine existenzielle Krise geriet, zeigte sich, dass sie als Gesellschaft nie so monolithisch gewesen war, wie man es sich klischeehaft im Westen bis heute oft vorstellt. 17 Millionen Menschen mit partikularen Interessen und Bedürfnissen entwickelten sich nun politisch völlig unterschiedlich. „In der DDR konnten wir uns darauf einigen, wogegen wir waren, doch nach dem Fall der Mauer stellte sich heraus, dass wir sehr unterschiedliche Ansichten hatten und uns nicht einigen konnten, wofür wir eigentlich waren“, sagt Daniela Dahn, für die mein Vater acht Verleumdungsklagen gegen die Springer-Presse gewann.Gysi, Wolf, Diestel, Kant1990 wurden viele Chancen zur Aufarbeitung und zum gesamtdeutschen Dialog vertan. Tatsächlich beseitigte die Wiedervereinigung die Asymmetrien nicht, sondern betonte sie vielmehr. Als mein Vater 1999 in der Süddeutschen Zeitung schrieb – beantwortet von empörten Leserbriefen –, die „Älteren aus dem Westen müssen sich fragen, was sie alles versäumt haben, um diesen Staat für die Jungen im Osten attraktiv zu machen“, lag er in seinen Prognosen nicht falsch. Er verwies auf „die von den Westdeutschen angerichteten wirtschaftlichen und seelischen Wüsteneien“ und sah deutlich voraus, dass sich Rechtsradikalismus und ein Scheitern der Einheit die Hand geben würden. Dazu sagte mir Gregor Gysi: „Dein Vater erkannte, dass in dem Moment, in dem die Ost-West-Konfrontation schwand, der Druck sinken würde, sich weiter um die Demokratie und soziale Gerechtigkeit zu bemühen.“1928 geboren, hatte mein Vater Bombenkrieg und brennende Häuser in Berlin erlebt und viele Tote gesehen. Die Aufklärung der NS-Verbrechen und die Vision eines besseren Deutschlands waren sein Lebensthema. Nie wieder Krieg, dafür stand er. Seit den 1960er Jahren hatte er als juristischer Berater von ZEIT und stern politische Zeitungsprozesse geführt, in deren Zentrum oft die Hinterlassenschaften der NS-Zeit standen. 1978 vertrat er die ZEIT und den Schriftsteller Rolf Hochhuth gegen die Klage des „furchtbaren Juristen“ Hans Filbinger, der als Marinerichter Matrosen mit Nazi-Gesetzen zum Tode verurteilt hatte. Filbinger, CDU-Mitglied und Ministerpräsident Baden-Württembergs, verlor und trat zurück.Mit seinem Schwerpunkt Presserecht erhielt mein Vater tiefe Einblicke in die Funktionsweisen des bundesrepublikanischen Beamten- und Machtapparats sowie die sich rasant verändernde Medienlandschaft im Neoliberalismus. Spätestens seit seinem Buch Richter und andere Bürger (1988) beschäftigte er sich mit den Traditionen politischer Justiz und „neudeutscher Herrschaftspublizistik“.Auf vielen Reisen nach Ostdeutschland machte er sich ein eigenes Bild. Auch sein Freund Günter Gaus, von 1974 bis 1981 Leiter der Ständigen Vertretung der BRD bei der DDR und lange Mitherausgeber des Freitag, vermittelte ihm vieles über das andere Deutschland – fern der geläufigen Vorurteile. Mit Detlev Rohwedder, 1990/91 Präsident der Treuhandanstalt, ein Trauzeuge meiner Eltern, stritt mein Vater über die Währungsunion. Deren übereilte Umsetzung hielt er für einen Kardinalfehler. Er ärgerte sich maßlos, als ein anderer Freund, Bundesbank-Präsident Karl Otto Pöhl, ihm gegenüber behauptete, die Einheit sei „aus der Portokasse“ zu zahlen – was auch dadurch nicht richtiger wurde, dass Kohl diesen Spruch nachbetete.Einer der ersten Mandanten aus der ehemaligen DDR war Markus Wolf. Die Hamburger Sozietät vertrat auch den Aufbau-Verlag, den letzten Innenminister der DDR, Peter-Michael Diestel, oder den Schriftsteller Hermann Kant. Für meinen Vater waren das nicht bloß Mandanten, sondern Menschen mit Biographien, geprägt von emotionalen Erfahrungen, Lebensgeschichten, Interessenslagen. Er hörte ihnen unvoreingenommen zu. Es waren „Gegenwelten“, wie Hermann Kant zum 70. Geburtstag meines Vaters schrieb – „was jeden von uns neugierig auf den anderen machte und beide, denke ich, mit Gewinn versah“.Nachdem Kants Ehefrau wegen dessen Mitgliedschaft im ZK der SED beruflich ausgegrenzt und ihre elfjährige Tochter von Mitschülern an Kiefer und Schädel schwer verletzt wurde, riet ihr mein Vater, nach England auszuwandern. Die Musikologin, die aus einer jüdischen Emigrantenfamilie stammt, befolgte seinen Rat: „Der Anwalt meines damaligen Mannes urteilte politisch frappierend genau. Er hat sich keine Illusionen über die politischen Entwicklungen der kommenden Zeit gemacht“, sagt Marion Kant.Antikommunistische ReflexeDass es nach 1990 üblich war, Ostdeutsche auf die Stasi zu reduzieren, empfand mein Vater als blindwütigen Antikommunismus, der sich wie ein roter Faden durch die Geschichte des 20. Jahrhunderts zog und auf ihn wie ein ideologisch aufgeladenes Spiegelbild wirkte. Irritiert registrierte er, dass „faktisch die Beweislast umgekehrt wird, wenn es um die Stasi geht“ – der Beschuldigte also seine Unschuld beweisen sollte. Der nachrichtendienstliche Wert der Stasi-Akten erschien ihm häufig sehr dünn, allzumal die Stasi die Akten ihrer wichtigen Mitarbeiter schon längst vernichtet hatte, während die verbliebenen Akten eine Wirklichkeit darstellen sollten, die der Wahrheit oft gar nicht entsprach. „Wehrt sich indes einer gar vor Gericht, dann sieht es mit der Stasi-Akte oft ganz anders aus – aber da hat die üble Nachrede ihre Ernte schon eingefahren“, so mein Vater, zunehmend desillusioniert. Daniela Dahn meint, jahrelang habe man im Parlament und in den Großmedien den Protest der PDS und der Linken delegitimiert. „Nicht zuletzt als Reaktion auf diese Wirkungslosigkeit ist nun der rechte Protest im Gewand der AfD gekommen. Und plötzlich sind alle zutiefst erschrocken und wollen den Frust an der Basis verstehen.“Mein Vater verurteilte es als historisch falsch, das SED-Regime reflexartig mit der Nazi-Diktatur gleichzusetzen, wie es in der westdeutschen Publizistik allenthalben geschah. Die pauschale Verunglimpfung des DDR-Antifaschismus ließ ihn fragen, welchen Anteil Westdeutsche „daran haben, dass sich in der DDR eine Diktatur dieser Qualität“ installierten konnte. In seinem Buch Die sogenannte Wiedervereinigung (1999) stellte er fest, dass das allgemeine Nachdenken über den Faschismus in der BRD erst wieder einsetzte, als die ersten Geflüchteten kamen und ausländerfeindliche Ausschreitungen sichtbar wurden. Wenn man jungen Ostdeutschen ständig vermittele, „im Antifaschismus das Übel schlechthin, also die SED, zu sehen, könnten diese im Faschismus vielleicht doch etwas Gutes finden“, befürchtete er. Einen verordneten Antifaschismus fand er „immer noch besser als gar keinen“. Allerdings übersah er dabei, dass Verordnungen von oben nur durch aufklärende Gespräche von unten, in den Familien und über eigene Familiengeschichte nachhaltig wirken können.Schon vor Wolfang Thierses Aufruf, sich gegenseitig die Lebensgeschichten zu erzählen, praktizierte mein Vater diese Dialoge. Viele Westdeutsche enervierte er mit der Forderung, sich endlich für ihre ostdeutschen Nachbarn zu interessieren, anstatt deren Identität zu verleugnen, selbstgerecht über deren Lebenserfahrungen zu urteilen und ihnen die Würde zu nehmen. „Man muss Menschen ihre Geschichte lassen. Auch wenn man einen Baum verpflanzt, muss man dessen Wurzeln mitnehmen“, so sein einstiger Mandant Peter-Michael Diestel.Mit seinen Positionen gehörte mein Vater in den 1990er Jahren zu einer westdeutschen Minderheit. Er weigerte sich, trotz erheblicher persönlicher Nachteile, mit sieghafter Pose in den Chor der Häme gegen alles Ostdeutsche einzustimmen. In den intellektuellen Kreisen, in denen er sich bewegte, nahmen ihm viele seinen Perspektivwechsel übel, fast wurde er wie ein Verräter behandelt, wie ein Linksradikaler, der doch „rüber gehen“ solle.So mancher behauptete, mein Vater trauere der DDR nach. In Wahrheit blieb er immer eher konservativ. Die Tatsache, dass er die Erziehung zum Antifaschismus richtig fand und in pauschalen Vorurteilen gegenüber Kommunisten und Ostdeutschen mitunter rechte politische Haltungen witterte, machte ihn weder zum Sozialisten noch zum Apologeten von Fehlentwicklungen in der DDR. Ihn bekümmerte, dass das Management der Wiedervereinigung in die falsche Richtung lief und alte Geister wachrief – rechtes Gedankengut, Rassismus und Antisemitismus.
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