Bildung Der neue Pisatest bescheinigt dem deutschen Schulsystem: Es vernachlässigt die Schwachen. Hoffnung gibt die Demografie, die die Schulstruktur nachhaltig verändern wird
Deutschland hat in der Pisa-Studie zugelegt – aber nur einen einzigen Punkt, in der Lesekompetenz. Da mag die Bundesbildungsministerin Annette Schavan (CDU) noch so von den Erfolgen in Naturwissenschaften und Mathematik schwärmen. Das Ergebnis ist ein bleibender Schreck: Die deutschen Schülerinnen und Schüler lesen schlecht, und sie tun es übrigens auch noch ungern. Das Land von Goethe, Brecht und Julia Franck verharrt bei einem Fünftel so genannter Risikoschüler. Das sind 15-Jährige, die nur auf Grundschulniveau lesen können. Hält man ihnen ein bedrucktes Blatt Papier hin, so können sie es wohl entziffern, aber nicht sagen, um was es da eigentlich geht. „Deutliche Schwächen im Reflektieren und Bewerten“ attestierten
en die Pisa-Tester diesmal den Schülern. „Was soll ich sagen“, brummte Schavan, „es tut mir leid für die Kinder, weil Lesen so schön ist.“Wenn das nur alles wäre. Aber es geht nicht darum, Hanni und Nanni oder Gregs Tagebücher stolperfrei zu konsumieren. Lesen ist die Schlüsselkompetenz, die Fähigkeit, die das Fundament für alles weitere Lernen ist: für die Mündigkeit, für den Beruf, für das weitere Leben. Deswegen heißt es bei Pisa auch nicht Lesen, sondern Literacy. Gemeint ist damit die Fähigkeit, die komplexe Welt zu entschlüsseln.Es ist wie 2001, als das erste „Programme for International Student Assessment“ (Pisa) ausgewertet wurde. Die deutschen 15-Jährigen fielen dabei durch zweierlei auf: Erstens konnten sie nur schlecht lesen. Und zweitens hing dieses Defizit eng mit der sozialen Herkunft zusammen.Neuerliche SchlappeKnapp zehn Jahre später verharrt das Land immer noch genau auf dem gleichen Fleck. Und obwohl die Kultusminister sich eisern bemühen, auch diese neuerliche Schlappe schönzulügen, hat das Ergebnis etwas Beklemmendes. Ja, es stimmt, das deutsche Bildungssystem ist stark in Bewegung geraten. Kindergärten werden inzwischen als Bildungseinrichtungen begriffen, das Land hat Abschied genommen von den Halbtagsschulen. Schon das ist eigentlich eine Jahrhundertleistung. Das Post-Pisa-Deutschland sieht um einiges anders aus als vor der ersten Umfrage.Allein, die Frage muss anders lauten. Denn es geht nicht darum, was sich Erziehungswissenschaftler oder Wirtschaftsleute wünschen. Hat sich also an den grundlegenden Parametern etwas geändert?In der Schule lernt man, erstens, lesen und schreiben. Und zweitens soll sie allen Schülern gleiche Chancen bieten, jedenfalls im Prinzip. Aber genau das tut sie nicht. Im Pisa-Zeugnis 2009 stehen variiert die gleichen erschütternden Sätze wie in dem von 2001: „In keinem anderen Land hat ein sozial ungünstiges Schul-Umfeld einen derart starken Einfluss auf die Leistungen von Kindern aus sozial schwachen Familien.“Das steht da so lapidar, und man überliest es beinahe. Nur steckt darin die beschämende Wahrheit, die Pisa aufgedeckt hat: Das deutsche Schulsystem spaltet das Land in Gewinner und Verlierer, es zementiert die herkunftsbedingte Leistungsfähigkeit. Oder anders gesagt: Schulerfolg ist erblich. Besteht man so das 21. Jahrhundert? Und was heißt es für die Demokratie, wenn die Kinder der Hartz-IV-Empfänger immer noch auf Hauptschule, Sonderschule, Misserfolg oder Sozialhilfe abonniert sind? Und zwar nur deshalb, weil das Schulsystem im Prinzip noch so imprägniert ist, wie es unterm Alten Fritz war: „Bisgen lesen und schreiben lernen [sollen die Bauernkinder], wissen sie aber zu viel, so laufen sie in die Städte und wollen Secretairs und so was werden.“Was gelernt?Wer hat eigentlich was gelernt aus Pisa? Die Eltern sind nervöser geworden, die Lehrer gehetzter, die Forscher wichtiger, die Schüler, ja, ein bisschen besser. Aber die Politik in ihrer sehr speziellen Ausformung der Schulpolitiker sind ebenso träge geblieben, wie sie es wohl schon im 19. Jahrhundert gewesen sein mögen. Pisa hat ihnen keine Beine gemacht. Sie schwören allesamt ihren Amtseid auf die Chancengleichheit, aber er ist ihnen praktisch egal. Allein das ist eigentlich schon ein Skandal.Denn der Deutschen Hoffnung, sie keimt anderswo: Wer genau hinschaut, wird sich die Augen reiben. Überall, in buchstäblich jedem Bundesland, wird derzeit die Schulstruktur nachhaltig verändert. Natürlich nicht wegen des schlechten Abschneidens in der Pisa-Studie. Nein, es ist die Demografie, Dummkopf! Den Gemeinden sterben die Schulen unter den Händen weg. Gerade in den Flächenstaaten Bayern, Baden-Württemberg, Hessen, Nordrhein-Westfalen und Niedersachsen, wo 75 Prozent aller deutschen Schüler zur Schule gehen, kämpfen die Bürgermeister für ihre Schule vor Ort. Und kommen zu betörenden Schlüssen, selbst wenn es sich dabei um sonst so rabenschwarze CSUler handelt: Die Schule muss im Dorf bleiben und das Abitur dort möglich sein. Das bedeutet nicht weniger als den Abschied vom alten Standesbewusstsein, wonach das Abitur eben nicht für jeden zu machen sein soll. Was die Bürgermeister, die Eltern und die Wirtschaft vor Ort wollen, ist der Eintritt in die Moderne: Der Weg zum Abitur soll offen bleiben – so lange wie möglich. Dann hat die Schule vor Ort ihre Berechtigung, ganz egal wie man sie nennt. Das ist die Revolution, die Pisa nicht geschafft hat. Jetzt kommt sie.
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